Losnummer: 40
Friedrich Nerly hat sich in seinem Oeuvre vielfach von literarischen Themen inspirieren lassen. Während in einigen Werken solche poetischen oder dramatischen Vorlagen nur sublim durchscheinen, gibt es andere Bilder, die eine literarische Vorlage sehr direkt illustrieren. Häufig waren es Motive aus der englischen Literatur, wie Shakespeares „Othello“ oder Lord Byron „Childe Harold’s pilgrimage“, die Nerly in seinen Werken aufgriff. Beim vorliegenden Gemälde jedoch, einem der magischsten und geheimnisvollsten Bilder des seit 1837 in der Lagunenstadt ansässigen Künstlers, stammt die Vorlage von Friedrich Schiller. Es zeigt eine Szene aus dessen unvollendet gebliebener Erzählung „Der Geisterseher“, die zwischen 1787 und 1789 in mehreren Fortsetzungen in der Zeitschrift Thalia erschien. Schillers Fragment handelt von einem deutschen Prinzen aus einem protestantischen Fürstenhaus, der sich in Venedig aufhält und dort durch die Intrige einer jesuitischen Geheimgesellschaft zum Katholizismus bekehrt werden soll. Die Geheimgesellschaft verspricht sich dadurch wie auch durch weitere betrügerische Machenschaften Einfluss in den deutschen Territorien der Familie des Prinzen. Eine besondere Rolle spielt hierbei ein maskierter Armenier, der den Prinzen und seinen Begleiter eines Abends verfolgt, ihnen merkwürdige, rätselhafte Worte zuraunt, um sich dann wieder unvermittelt und spurlos zu entfernen.
Nerly siedelt diese Szene auf dem Markusplatz an. Die dunklen Figuren der drei Protagonisten, des Prinzen, seines Begleiters sowie des Armeniers, ragen neben dem Sockel der monumentalen Theodorsäule silhouettenartig im Gegenlicht des Mondes empor. Es dürfte nur wenige Gemälde im Oeuvre Nerlys geben, in denen die Figuren im Verhältnis zum umgebenden Rau größer dargestellt werden. „Nerly befestigt die mysteriöse Begegnung architektonisch zwischen dem plastisch greifbaren Säulensockel und dem kühn hierzu komponierten Ausblick auf die Salute mit der Dogana und in weiter Entfernung San Giorgio, die durch das Mondlicht zwischen aufreißenden Wolken sichtbar werden, aber zugleich […] erscheinungshaft wie in einem Traum gesehen wirken.“ (Myssok, a.a.O., S. 65). Der Vorliebe Nerlys für nächtliche Darstellungen und der Wiedergabe geheimnisvollen Mondlichts kam das Thema entgegen. Silberhell leuchtet das Wasser der Lagune im Mondschein hinter den drei dunklen Figuren auf und verstärkt noch die Atmosphäre des Unheimlichen und Gefährlichen, die die dunkle Figurengruppe evoziert.
Das Gemälde entstand zusammen mit drei weiteren Darstellungen von Szenen aus „Der Geisterseher“ im Auftrag des Herzogs von Braunschweig, der den Zyklus für seine Sommerresidenz Schloss Sibyllenort vorgehen hatte. Nerly selber schreibt dazu in einem Brief vom 4. September 1855: „[…] ich bin fortwährend beschäftigt und habe 4 größere Öhlgemälde im Auftrag des reg. Herzogs von Braunschweig in der Arbeit und zwar einen Gegenstand, der wohl in Taschenbuchausgaben, aber sonst fast nie behandelt worden ist, nämlich aus dem Geisterseher von Schiller.“ (Zit. nach Römische Tage - Venezianische Nächte, a.a.O., S. 57). Von diesen vier Gemälden ist heute nur noch das vorliegende, außergewöhnliche Werk nachweisbar.
Provenienz
Kunsthandlung Bruno Wenzel, Breslau (verso auf dem Keilrahmen Klebeetikett mit dem handschriftlichen Bildtitel "Die Geisterseher"). - Auktion van Ham, Köln, 26.6.1992, Lot 1207. - Dort erworben.
Literaturhinweise
Ausst.-Kat. „Römische Tage - Venezianische Nächte. Friedrich Nerly zum 200. Geburtstag, hg. v. W. Morath-Vogel, Dessau, Lübeck u. Paderborn 2007/08, Bönen 2007, S. 210, Nr. 39, Abb. S. 115 sowie S. 46 u. 56ff. - Ausst.-Kat. „Venedig Bilder in der deutschen Kunst des 19. Jahrhunderts“, Karlsruhe u. Paderborn 2010/11. - J. Myssok: Friedrich Nerly in Venedig, MDCCC, 1, 2012, S. 55-66, S. 64f. m. Abb.
Ausstellung
Römische Tage - Venezianische Nächte. Friedrich Nerly zum 200. Geburtstag, Dessau, Anhaltinische Gemäldegalerie, 24.22.2007-20.1.2008, Lübeck, Museum Behnhaus/Drägerhaus, 24.2.-18.5.2008 u. Paderborn, Städtische Galerie in der Reithalle, 7.6.-31.8.2008. - Venedig-Bilder in der deutschen Kunst des 19. Jahrhunderts, Karlsruhe, Städtische Galerie, 27.11.2010-6.3.2011 u. Paderborn, Städtische Galerie in der Reithalle, 2.4.-3.7.2011.
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