Losnummer: 659
Provenienz
Direkt vom Künstler erworben; Privatsammlung, Berlin
Spitznasige Derwische potenzieren im Moment der Drehung ihre energetische Dynamik und beschleunigen zu einem Tempo wie Eistänzer am Ende ihrer Pirouetten. Nicht erst mit dieser temperamentvollen Geste gibt Tony Cragg der menschlichen Figur eine neue Facette in der Skulptur. Diese verwunderlichen und in den Details überraschenden Formen haben ihren Ursprung in den „Early Forms“ und „Rational Beings“. Mit dem gesehenen Prinzip „Wirbelsäule“ und den darin immanent exzentrischen Verschiebungen entwickelt Tony Cragg in den letzten Jahren eine aufsehenerregende Sprache, mit der er seine signifikanten Plastiken mit narrativen Bezügen akzentuiert, wie an diesem Beispiel „Runner“ prägnant zu sehen ist. „Was mich an diesen Skulpturen interessierte, war“, so der Bildhauer 1996, „wie eine organische, irrationale Form sich mit dem starren geometrischen Element verband und daraus neue Formen entstanden, in denen ich eine Fülle erregender Bezüge und Eindrücke entdeckte.“ (Tony Cragg, Wirbelsäule, The Articulated Column in der Skulpturensammlung Viersen, Viersen 1996, S.24).
Hieraus entwickelt der Künstler seine Skulpturen in den letzten Jahren zu einer komplexen Sprache aus formalen Implikationen, Analogien, Transformationen und realisiert dabei höchst überraschende Momente. Das Verschmelzen von Schichten zu geschlossenen Formen bildet eine bildhauerische Errungenschaft, die Anthony Cragg in unterschiedlichen Materialien und formalen Strategien weiterentwickelt, bis er das scheinbar Unmögliche realisiert: die Auflösung von skulpturaler Statik. Stimmen Prozess und Material überein, lotet der Künstler die Möglichkeiten und Bedingungen einer plastischen Form wie bei „Runner“ aus. 2009 entsteht eine erste Arbeit mit diesen extremen, exzentrischen Verschiebungen eines Volumens um eine Achse in Holz, Schichtholz, dessen ausgeprägte lineare Maserung den von Cragg gewünschten Vorgang besonders herausstellt. In einer weiteren Stufe mit „Red Figure“ (2011) in rot durchfärbtem Schichtholz entspricht der Herauslösung einer der beiden Figuren in „Runner“ und verdichtet sie schließlich erneut mit der Arbeit „Group“ (2012), wiederum in Schichtholz. Er sieht hierin eine gewisse Wertigkeit, die sich durch die Ringe oder Schichten des Sperrholzes vermittelt.
Tony Cragg erfindet seine Formen zunächst in perspektivischen Zeichnungen mittleren Formats, auch wenn man in Versuchung kommt, das Ergebnis am Ende als eine Laune des Computers mit Zufallsgenerator anzunehmen. In diesen Zeichnungen kreiert der Künstler den Witz des Pittoresken wie das menschliche Profil, das in den Plastiken bisweilen auftaucht: Cragg zeichnet Bewegung und Gegenbewegung der Profile, eine hintereinander geschichtete Wiederholung von Silhouetten, mit der schon die Futuristen, etwa Giacomo Balla oder Umberto Boccioni ihre Bilder bzw. ihre Skulpturen dynamisierten. „Ich interessiere mich für den Kopf und das Profil, weil es einfache Dinge sind, die Menschen wirklich gut lesen können. Es ist eine Form auf die wir uns konzentrieren, wo alle Parameter und Fähigkeiten unseres ästhetischen Urteilsvermögens zusammentreffen das Gesicht ist wahrscheinlich die wichtigste Oberfläche die wir analysieren.“ (Anthony Cragg in einem Interview mit Jon Wood, in: Ausst.: Tony Cragg versus F. X. Messerschmidt, Wien 2008, S. 15).
Die Konzentration auf die Oberfläche und ihre ästhetisch perfekte Erscheinung des Sichtbaren, die genaue Abstimmung zwischen Form / Figur und gewähltem Material, kurzum: Mit der plastischen Präsenz das Gefühl für Oberfläche zu steigern, zeichnet die besondere Stärke des Künstlers aus. „Runner“, so Cragg, „vermittelt mir das Gefühl, das man in dem Moment hat, in dem man denkt, man weiß, wo es langgeht, aber dabei erahnt, möglicherweise in die falsche Richtung zu laufen. Dies bezieht sich häufig nicht nur auf die kleinen persönlichen Dinge, sondern oft auch auf die großen Bewegungen und Tendenzen, die man allgemein um sich spürt.“ (). Die Leichtigkeit dieser ungewöhnlichen Form und das gewählte Material Bronze verlangen vom Gießer höchstmögliche Präzision: Das vom Künstler erdachte, komplexe Aufeinanderstapeln von Konkavem und Konvexem scheint darüber spielerisch hinwegzutäuschen.
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