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Das Museum Tinguely in Basel entschlüsselt die enge Verflechtung von Schaufenstergestaltung und bildender Kunst  Den Durchblick schaffen

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 |  | in der Ausstellung „Fresh Window. Kunst & Schaufenster“ | |
Im Auftaktsaal der aktuellen Schau im Baseler Museum Tinguely steht man vor der verkleinerten Nachbildung eines französischen zweiflügeligen Fensters. Beim Blick durch die von türkisfarbenen Sprossen gerahmten Scheiben wird man aber enttäuscht. Undurchsichtiges glänzendes Leder ist an die Stelle des Glases getreten. Damit verliert das Fenster seine originäre Funktion sowie seine klassische sinnbildhafte Bedeutung, die ihm in der Kunstgeschichte zugeschrieben wird. Doch nicht nur das 1920 von einem Schreiner nach Anweisungen von Marcel Duchamp kreierte „Fresh Window“ irritiert hier. An den Seiten befinden sich Vitrinen von Christo und Jeanne-Claude, die mit ähnlichen Effekten arbeiten. Mit Packpapier zugeklebt, zugestrichen oder mit Stoffvorhängen versehen lassen die Scheiben jedwede Kauflust abprallen. Sie wecken Neugier und werfen Fragen auf: Was steckt dahinter und warum sind die Scheiben verhüllt? Der Fotograf Johnnie Shand Kydd schoss 2001 Aufnahmen von Londoner Ladenlokalen, die aus Schutz vor Demonstranten mit geometrischen Sperrholzformen verbarrikadiert waren. Verkaufsfördernde Auslagen wichen eher abstoßend wirkenden minimalistischen Strukturen. Der französische Bildhauer Bertrand Lavier schuf den Ausschnitt eines mit „Blanc d’Espagne“ bemalten Schaufensters in der Form einer auf Leinwand gedruckten Fotografie. Das Glas behält sichtbare Präsenz, das Medium selbst ist Gegenstand der künstlerischen Auseinandersetzung.
Schaufensterauslagen und bildende Künste sind seit längerem eng miteinander verbunden. Der Hauspatron des Museums, Jean Tinguely, absolvierte eine Ausbildung zum Dekorateur an der Allgemeinen Gewerbeschule in Basel und arbeitete zunächst als professioneller Schaufenstergestalter. Fotografien zeigen in der Ausstellung seine zumeist aus Draht realisierten Dekorationen, in denen bereits die spätere künstlerische Handschrift sichtbar wird. Auch zahlreiche weitere Künstlerinnen und Künstler gaben Impulse auf dem Sektor der Auslagengestaltung. Viele verdienten mit dieser Tätigkeit ihren Lebensunterhalt und machten mit originellen Gestaltungen von sich reden, bevor ihre Karriere startete. Andererseits griffen sie das Motiv des Schaufensters immer wieder in ihren Gemälden, Installationen, Skulpturen, Videoarbeiten oder Fotoserien auf, man denke beispielsweise an die Verarbeitung des Sujets in Bildern von August Macke. Zudem dienten Schaufenster als Bühnen für Performances oder Aktionen. Nicht zu vergessen bleibt die geschichtliche Dimension. Seit dem späten 19. Jahrhundert wandelte sich mit dem Aufstieg der Warenhauskultur das Schaufenster zum stadtbildprägenden Element und zentralen Instrument im modernen Konsumverhalten. Der Schaufensterbummel avancierte zum Einkaufserlebnis, wurde Teil der Freizeitgestaltung, spiegelte aber auch sich wandelnde gesellschaftliche Verhältnisse und eine sich verändernde Nutzung des öffentlichen Raumes.
Erstmals nimmt sich nun unter dem Titel „Fresh Window“ eine Ausstellung der Vielschichtigkeit dieses Phänomens an. In acht thematischen Kapiteln versammelte das Kuratorenteam aus Adrian Dannatt, Tabea Panizzi und Andreas Pardey rund 100 Kunstwerke und Archivalien von 35 Künstlerinnen und Künstlern, ergänzt um künstlerische Interventionen im Stadtraum. Gleich zu Beginn wird klar, wie sehr das Schaufenster als vereinende, vermischende oder trennende Membran Begehren weckt oder zurückweist und damit als Ort künstlerischer Experimente besonders anzieht. In den 1950er Jahren erlebten Schaufenster eine Blütezeit. Gene Moore, der Art Director des New Yorker Warenhauses Bonwit Teller und des Juweliergeschäftes Tiffany & Co, förderte junge Talente und beauftragte Robert Rauschenberg, Jasper Johns oder Andy Warhol mit aufwendigen Dekorationen, bevor sie berühmt wurden. Auf einige dieser Fenster macht die Schau mittels Fotografien aufmerksam oder hat sie originalgetreu rekonstruiert, so dass sie nach 70 Jahren wiederentdeckt werden können.
Schon Anfang des 20. Jahrhunderts begannen Fotografen wie Eugène Atget in Paris oder Berenice Abbott in New York, Geschäftsfronten mit ihren Auslagen zu dokumentieren. Die Spuren zweier Jahrzehnte hielt Iren Stehli in Fotografien von Prager Schaufenstern fest. Die Dekorationen reflektieren verschiedene politische Phasen des Landes von 1978 bis in die 1990er Jahre. Heute trifft man jedoch immer mehr auf Leerstände statt aufwendig gestalteter Schaufensterfronten. Nach dem Ausbau des Versandhandels mit aufwendigen Katalogen, der Etablierung von Einkaufszentren und im Rahmen des Online-Shoppings hat der Schaufensterbummel an Bedeutung stark verloren. Gregory Crewdson visualisiert in träumerischen und spannungsvollen Fotografien eine Welt außerhalb der Zeit. Heutige und vergangene Zeiten vereinen die Modedesignerin Beca Lipscombe und die Künstlerin Lucy McKenzie, indem sie klassische, heute kaum noch in Einkaufsstraßen zu findende Vitrinen in der Installation „Street Vitrines“ aufgreifen und dort Stücke ihrer Modelinie präsentieren.
Die Faszination für das Metier führt dann noch zu architektonischen Gestaltungen, etwa Christo und Jeanne-Claudes „Purple Store Front“ oder Sarah Statons frei stehendes „Kunstkammerkiosk“, das die Vermarktung von Kreativität mit erwerbbaren Objekten aus dem Museumsshop in den Fokus rückt. Das weit gespannte, aber erfreulich konkret gefasste Panorama schließt mit einem Kapitel, in dem das Schaufenster als Bühne dient. Künstler*innen integrieren dabei das Flanieren und Betrachten in ihre Aktionen. Wie hier gesellschaftliche Themen verhandelt werden, macht Jiajia Zhangs „Fenster (Script)“ von 2023 deutlich. Ein Lamellenvorhang verwehrt den Einblick. Zeitangaben an der Scheibe erinnern an Landeöffnungszeiten, sind aber real die Stillzeiten der Tochter. Künstlerinnen- und zugleich Mutterdasein, Privates, Intimes und Öffentliches werden offen verwoben. Jean Tinguely setzte 1969 seine Geschirr zerschlagende Maschine „Rotozaza No. 3“ im Schaufenster des Berner Warenhauses Loeb in Gang und kritisierte damit radikal und spielerisch zugleich den übermäßigen Konsum in der westlichen Welt. Sherrie Rabinowitz und Kit Galloway ermöglichten im Jahr 1980 mit Hilfe innovativer Technik, dass Passanten vor einem New Yorker Schaufenster durch eine Form der Videotelefonie mit Spaziergängern in Los Angeles in Austausch treten konnten. Die Arbeit „Hole in Space“ zeigt zum Schluss, welche positive und vermittelnde Rolle das Schaufenster einnehmen kann.
Die Ausstellung „Fresh Window. Kunst & Schaufenster“ ist bis zum 11. Mai zu sehen. Das Museum Tinguely hat täglich außer montags von 11 bis 18 Uhr, donnerstags bis 21 Uhr geöffnet. Der Eintritt beträgt 18 Franken, ermäßigt 12 Franken. Zur Ausstellung ist ein Katalog erschienen, der im Museum 42 Franken kostet. |  | Kontakt: Museum Tinguely Paul-Sacher-Anlage 1 CH-4058 Basel |
 | Telefax:+41 (061) 68 19 321 | Telefon:+41 (061) 68 19 320 |  |
17.02.2025 |
Quelle/Autor:Kunstmarkt.com/Hans-Peter Schwanke |  |
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 Jean Tinguelys
„Rotozaza III“ im
Schaufenster des
Warenhauses Loeb in
Bern, Oktober 1969 |  | |  |  |  |  |  | 
 Sarah Staton,
Kunstkammerkiosk –
Basel, 2024 |  | |  |  |  |  |  | 
 Jiajia Zhang,
Fenster (Script),
2023 |  | |  |  |  |  |  | 
 Kit Galloway und
Sherrie Rabinowitz,
Hole In Space, 1980 |  | |  |  |  |  |  | 
 Bertrand Lavier,
Avenue Rapp, 2024 |  | |  |  |  |  |  | 
 Atelier E.B (Beca
Lipscombe, Lucy
McKenzie), Street
Vitrine III, 2020 |  | |  |  |  |  |  | 
 Martina Morger,
Lèche Vitrines, 2020 |  | |  |  |  |  |  | 
 Tschabalala Self,
Customer 4 – Customer
5, 2024 |  | |  |  |  |  |  | 

Schaufensterdekoration
von Jean Tinguely für
Optiker „M. Ramstein
Iberg Co.“, Basel,
circa Mai 1949 |  | |  |  |  |  |  | 
 Ion Grigorescu,
Loto, 1972 |  | |  |  |  |  |  | 
 Christo, Purple
Store Front, 1964 |  | |  |  |  |  |  | 
 Richard Estes,
Untitled, 1973/74 |  | |  |  |  |  |  | 
 Andy Warhol,
Bonwit’s Loves
Mistigri, 1955 |  | |  |  |
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