Die Berggasse 19 im 9. Wiener Gemeindebezirk zählt zu den weltweit schillerndsten Adressen. In dem typisch bürgerlichen Haus aus der Gründerzeit eröffnete Sigmund Freud 1891 seine ärztliche Praxis und entwickelte jene Wissenschaft, die das Verständnis der menschlichen Psyche grundlegend veränderte. Hier führte er bis zu seiner Vertreibung nach England seine Analysen durch und hier verfasste er Arbeiten wie „Die Traumdeutung“ oder seine Fallgeschichten. An selber Stelle befindet sich heute das Sigmund Freud Museum. Mit einem Archiv, einer wissenschaftlichen Bibliothek, einer Kunstsammlung und dem Vortrags- und Ausstellungssaal ist die Berggasse 19 in den letzten Jahren über den Rahmen einer Gedenkstätte hinaus zu einem Ort vielfältiger Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse geworden.
Parallel zum Sammlungsbestand präsentiert das Museum jährlich zwei bis drei Wechselausstellungen, die verdeutlichen, wie Fragen der zeitgenössischen Kunst mit denen der Psychoanalyse konvergieren. Als Auftakt für das Freud Jahr 2006 zeigt das Haus noch bis Ende Februar die Sonderschau „Meisterwerke aus Gugging“ und präsentiert eine kleine, beachtenswerte Auswahl an Werken der Künstler, die wesentlich zum Nimbus der „Guggingkünstler“ beigetragen haben und die nachhaltig den Erfindungsreichtum, die Poesie und auch den hintergründigen Witz der einzelnen Positionen vermittelt.
Der österreichische Psychiater Leo Navratil ließ in den 1950er Jahren seine Patienten Testzeichnungen anfertigen, um diese dann für diagnostische Zwecke auswerten zu können. Einige dieser Werke waren jedoch nicht in psychiatrische Schubladen wie Depression, Psychose oder Manie einzuordnen. Im Zuge der kontinuierlichen Arbeit mit den Patienten stellte Navratil psychosebedingte Veränderungen in den Zeichenstilen fest. Er begann, mit den künstlerisch begabten vor allem mit den schizophrenen Patienten intensiver zu arbeiten.
1981 gründete er unweit von Wien in einem leerstehenden Pavillon auf dem Gelände der Nervenklinik Gugging das „Zentrum für Kunst-Psychotherapie“, das als Wohngemeinschaft zum Zeichnen und Malen diente. Das von Navratils Nachfolger Johann Feilacher in „Haus der Künstler“ umbenannte Projekt, wurde zum Lebens- und Arbeitszentrum zahlreicher Patienten. Gleichzeitig ist es bis heute ein wichtiger Ort des Austauschs und der Begegnung, wenn gleich in den letzten Jahren auch der Vorwurf lauter wurde, dass sich mit zunehmender Vermarktung die aus dem Geist der Therapie geborene Kreativität endgültig zu einer den Kunstmarkt bedienenden Produktion verlagert habe.
Johann Garber, der 1947 in Wiener Neustadt geboren wurde, kam mit 19 Jahren erstmals in psychiatrische Behandlung und lebt seit 1981 im „Haus der Künstler“. Sein „Sexi Blatt“ aus dem Jahr 1999, eine großformatige Tuschezeichnung, besticht durch einen kleinteiligen Kosmos von männlichen und weiblichen Personen, Wirtshäusern, Bäumen, Zäunen, Blumen und Fabeltieren. Vereinzelt und kaum sichtbar fügt er Wörter hinzu. Von Garber stammt auch eine kleine Tuschezeichnung, die Sigmund Freud mit Stoppelbart stilisiert. „Bin mäßig, heilig...“ betitelt Johann Fischer, der 1919 im niederösterreichischen Kirchberg geboren wurde und ebenfalls seit 1981 in Gugging lebt und arbeitet, ein querformatiges Blatt, eine komplexe Bildgeschichte, in der er reale und erfundene Begebenheiten und Geschichten illustriert.
Heinrich Reisenbauer, geboren 1938, wurde wegen einer aufgetretenen Psychose nach dem Besuch des Gymnasiums in die Nervenklinik Gugging eingewiesen, wo er 30 Jahre lang in einer Abteilung für chronisch Kranke lebte. 1986 wurde er eingeladen, ins „Haus der Künstler“ zu ziehen. Hier entstanden seine meist kleinformatigen Arbeiten, grafische Wiederholungen von alltäglichen Gegenständen wie Regenschirmen und Flaschen, die sich jeweils in feinen Nuancen voneinander unterscheiden. Der 1920 geborene Oswald Tschirtner studierte zunächst Chemie, bis er zum Militärdienst eingezogen wurde. 1945 kehrte er aus französischer Kriegsgefangenheit zurück und wurde erstmals auffällig wegen psychischer Probleme. Tschirtner reduziert seine Vorlagen zu einfachen grafischen Formulierungen. Seine streng gelängten „Kopffüßler“ sind immer wieder die gleichen, untereinander völlig beziehungslosen Figuren.
„Keschlechtsferker im Bett“ nennt Johann Korec seine stilisierte Darstellung von zwei männlichen Gestalten aus dem Jahr 2002/03, die eng umschlungen in einem Bett liegen. Der 1937 in Wien geborene Korec wuchs in Jugendheimen auf und arbeitete nach dem Besuch einer Sonderschule als Knecht auf einem Bauernhof. 1958 wurde er in Gugging eingewiesen. Bereits in den 1960er Jahren begann Korec künstlerisch zu arbeiten. Aus dem Kopieren von Zeitungsvorlagen entwickelte er nach mehreren Jahren eine freie Maltechnik. Seine bevorzugten Motive sind Liebespaare und erotische Szenen, die als illustriertes Tagebuch gesehen werden können.
August Walla gehört neben Johann Hauser und Oswald Tschirtner, zu den bekanntesten und vielseitigsten Künstlerpersönlichkeiten aus Gugging. Walla begann schon in seiner Jugend künstlerisch zu arbeiten. Er zeichnete, malte und fotografierte, war Kalligraf und Lettrist und legte Zeichen und Symbole in die Landschaft. Er gestaltete seine Umgebung, indem er auch Häuser, Straßen und Bäume beschriftete und schuf seine eigene Mythologie mit bekannten und selbst erfundenen Göttern und Wesen. Die Wiener Ausstellung zeigt von Walla eine quadratische Leinwand, die im Jahr 2000, kurz vor dessen Tod entstand. In seinem Gemälde „Krone“ umfangen farbige Ornamente den in Versalien geschriebenen und leicht abgeänderten Namen „Augustin Walla“.
Franz Kernbeis kam 1935 im niederösterreichischen Priglitz zur Welt. Mit 17 Jahren traten bei ihm psychische Störungen auf und er wurde in die Nervenklinik Gugging eingewiesen. Seine Arbeiten, wie das in der Ausstellung gezeigte „Flugzeug“ von 2002, zeichnen sich durch eine archaische Formensprache aus. Arnold Schmidt, geboren 1959, kam wegen psychischer Störungen bereits in seiner Jugend in eine psychiatrische Klinik. Er wurde 1986 ins „Haus der Künstler“ eingeladen, wo er einen expressiven Mal- und Zeichenstil entwickelte. Meist zeichnet er menschliche Figuren in Frontalansicht, wie die kleinformatige, mit Wachskreiden und Aquarell gearbeitete Papierarbeit „Frau“ von 2003.
Günther Schützenhöfer wurde 1965 in Mödling bei Wien geboren. Er wohnt seit 1999 im „Haus der Künstler“ und ist mit 40 Jahren der Jüngste unter den „Guggingern“. Seinen poetischen, farblich reduzierten Zeichnungen gibt er lapidare Titel wie „Hose mit Hosenträger“ (2003). Karl Vondal, geboren 1953, lebt erst seit 2002 im „Haus der Künstler“. Eines seiner Hauptmotive sind Frauen, die er immer wieder mit den gleichen Attributen, ausgeprägten Geschlechtsorganen und üppigen Haaren ausstattet. Sein Lieblingsthema hat er mit der Farbstiftzeichnung „Die vier Frauen mit Kerze“ von 2003 um eine lustvolle Variante bereichert.
Innerhalb der verschiedenen Œuvres der Gugginger Künstler gibt es inhaltliche Parallelen wie die Verbindung von Schrift und Bild oder jene von Religiosität und Sexualität. Auch sind die Bildwelten der zeichnenden und malenden Patienten in ihrer gesamten Rätselhaftigkeit zumeist ideale Welten und selten sichtbarer Niederschlag jenes menschlichen Leids, in dessen unmittelbarer Folge sie stehen mögen. Die Sonderschau im Sigmund Freud Museum leitet zugleich eine Ausstellungsreihe der Künstler aus Gugging ein, die den Höhepunkt in der Eröffnung des neuen ICC Guggings (Integrative Cultur Centrum Gugging) im Sommer 2006 finden wird. Die „Galerie der Künstler aus Gugging“ ist bereits seit Juni dieses Jahres zugängig.
Die Ausstellung „Meisterwerke aus Gugging“ ist bis zum 28. Februar 2006 zu sehen. Geöffnet ist täglich von 9 bis 17 Uhr. Der Eintritt beträgt 7 Euro, ermäßigt 5,50 bzw. 4 Euro. Die Galerie der Künstler aus Gugging hat Montag bis Freitag von 8:30 bis 16 Uhr und jeden zweiten und vierten Samstag im Monat von 10 bis 16 Uhr geöffnet.
Galerie der Künstler aus Gugging
Hauptstraße 2
A-3400 Maria Gugging
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