 |  | Tobias Pils, Night on Earth, 2018 | |
Unter den vielen Erklärungen zum Wesen der Malerei gibt es eine bemerkenswerte, die vom amerikanischen Maler Joe Bradley stammt: „Ich denke, Malerei ist eng mit inneren Reisen und der Erforschung innerer Welten verbunden. Wenn ich male, habe ich immer den Eindruck, dass man sozusagen einen gemeinsamen Raum betritt. Alle, die jemals in der Vergangenheit gemalt haben, sind dort, ebenso wie alle, die in der Gegenwart malen.“ Dieser Raum, den Bradley beschreibt, ist ein Bereich, in dem das freie Oszillieren zwischen kunsthistorischen, zeitgenössischen und persönlichen Bezügen möglich ist und der seit Jahrhunderten verschiedenste Bildsprachen provoziert. Auch das Werk von Tobias Pils, dem das Museum moderner Kunst in Wien aktuell eine umfangreiche, von Manuela Ammer kuratierte Schau widmet, ist geprägt von einer intensiven Auseinandersetzung mit der Geschichte der Malerei.
Auf zwei Stockwerken wird in labyrinthischer Besucherführung eine Rückschau auf die vergangenen zehn Jahre seines Schaffens ausgebreitet, die vom Künstler nicht nur als Retrospektive, sondern auch als eine „Vorschau“ verstanden wird und in der die „Bewegung“ im Vordergrund steht. Diese Bewegung wird einerseits durch die Ausstellungsarchitektur geschaffen, die ständig neue Bezüge und Dialoge zwischen den Bildern ermöglicht, andererseits tauschen Inhalt und Form immer wieder die Plätze.
In Deutschland, den USA, Frankreich war Tobias Pils zuletzt präsenter als in Österreich; seine letzten Personalen hatte er hier 2017 in der Kunsthalle Krems und 2013 in der Wiener Secession. Die Schau steht in der Tradition von Mid-Career-Ausstellungen im Mumok, wie die Direktorin Karola Kraus anlässlich der letzten Eröffnung unter ihrer Ägide erklärte, und ist damit Ausdruck einer Schwellensituation auch auf karriereimmanenter Ebene.
Im Zeitalter der Meme und des digitalen Feeds, der die permanente Übermittlung ständig neuer Informationen, Meinungen und semiotischer Bedeutungen geradezu erzwingt, steht Tobias Pils’ Werk für eine weniger erregte visuelle Ordnung. Der 1971 geborene, in Linz aufgewachsene und in Wien arbeitende Künstler kreiert Gemälde und Zeichnungen, die mit Nonchalance kunsthistorische Verweise und neue Ideen, Tragik, dunkle Komik und Unbeschwertheit zu einem eigenen Tonfall verschmelzen. Auf den ersten Blick erinnert Pils’ Methode an den kubistischen Stil von Pablo Picasso, an Jean Dubuffets verschlungene Strukturen oder an das figurative Spätwerk von Philip Guston. Seine Gemälde beschreiben Situationen, die wie von persönlich Erlebtem gespeiste Traumwelten anmuten. Sie kondensieren die unerschöpflichen Ressourcen des Mediums in einer zwischen Abstraktion und Figuration mäandernden Hommage an die Malerei. Befreit von Fragen der Kompatibilität von Zitat und Neufindung, Privatem und Allgemeingültigem partizipieren die Betrachter an einem subtil beschleunigten Dialog über Imagination und Transformation der Figuren, Gegenstände und Räume in einem verschlungenen Szenario aus Linien und Konturen, fließenden Farbflächen, Leerstellen und anarchischen Verdichtungen.
Empfangen werden die Mumok-Besucher von „Wolke“, einer Projektion von Zeichnungen auf den das Foyer querenden weißen Kubus von Heimo Zobernig, der die durch einen Lichtschacht getrennten Hälften des Hauses verbindet. Die Wolke setzt sich aus Elementen der Malerei von Tobias Pils zusammen: Sternenhimmel, Bäume und Tiere, an den Tod erinnernde Gestalten, verschlungene Liebespaare und ungegenständliche Motive wie Schlieren sind Sujets, mit denen man in der Folge konfrontiert wird und die ein „Vorgefühl“ auf die Werke initiieren sollen, wie der Künstler selbst beschreibt. Die Projektion ist ein stimmiger Einstieg in die zeichnerische und malerische Produktion von Tobias Pils, weil sie sich, wie die Ausstellung selbst, einer schnellen Lesbarkeit entzieht und stattdessen auf die Kraft von Ambivalenzen, ein zentrales Thema von Tobias Pils, setzt. In einer reduzierten Farbwelt entfaltet Pils Bildräume, in denen das Persönliche ins Allgemeine übergeht und das Intime ins Monumentale wächst. Wiederholungen, Variationen und Brüche kreieren ein Spannungsfeld, das den Blick immer wieder neu ausrichtet und das Sehen selbst als eine fortwährende, offene Erkundung erleben lässt – wie ein vertrauter Ort, den man zum ersten Mal betritt.
Auf der Ausstellungsebene „minus zwei“ wird man daran erinnert, wie Pils begonnen hat: als Zeichner. Die 1993 aus einer Zusammenarbeit mit der Schriftstellerin Friederike Mayröcker entstandene und zehn Blätter umfassende Serie „Kopfland“ führt an die Anfänge seiner Karriere. Die 39 Bleistiftzeichnungen der „Alphabet-Serie“, die Pils fast drei Jahrzehnte später nicht im Atelier sondern auf Reisen und zu Hause schuf, führen eindrucksvoll vor Augen, dass die Zeichnung weiterhin ein wichtiges Medium für ihn bleibt und dass gerade die Beschränkung auf einen Bleistift und ein kleines Blatt Papier eine Fülle an Möglichkeiten bereithält. Zugleich sind es Skizzen, Entwürfe und Pläne für etwas Neues, für Bilder, die unter Mitnahme der reduzierten Farbwelt der Zeichnung ab 2020 an der Staffelei entstanden, während Pils die Leinwände in den Jahren zuvor auf dem Boden bearbeitete. In den Ausstellungsräumen daneben und darüber dominieren Gemälde. Hier erschließt sich, wie Pils seine Malerei von der Abstraktion zur Gegenständlichkeit und vom Schwarzweiß in die Farbigkeit weiterentwickelt, ohne diesen Unterscheidungen jedoch grundlegende Bedeutung beizumessen.
Charakteristisch für Pils’ Arbeiten ist ein wiederkehrendes Repertoire an Motiven. Autobiografische Hinweise verbindet der Künstler mit klassischen Motiven der westlichen Kunstgeschichte, darunter die Heilige Familie, Erlöserfiguren und die Pietà. Der flächige Stil von Cartoons dient ebenso als Vorbild wie die komprimierte Formensprache archaischer Bildwerke. Dabei geht es Tobias Pils primär um formale Aspekte: „Während ich male, denke ich überhaupt nicht inhaltlich, sondern rein formal. Ich glaube, dass die Form den Inhalt bestimmt.“ Für seine Bilder bedeutet dies, dass Motive mutieren und sich verlieren, um sich dann erneut aufzubauen. Die Thematik von Werden und Vergehen, der zyklische Kreislauf des Lebens, dient als Ausgangspunkt, um zentrale Fragen der Malerei immer wieder neu zu stellen. Eine malerische Markierung führt zur nächsten, ein Bild zu einem weiteren. Daher spricht Pils auch nicht von Bilderserien, sondern von „Familien“. Besonders deutlich wird dies in dem Zyklus „Seven Days“ aus dem Jahr 2018, in dem eine Schöpfungsgeschichte zur Metapher für den kreativen Prozess wird. Pils’ Ausgangsidee war es, Figuren bei der Handhabung eines „Passstückes“ des österreichischen Künstlers Franz West zu zeigen. Tatsächlich muten seine Figuren selbst wie „Passstücke“ an: Ihre hölzernen Körper sind dem Bildformat flächig eingepasst, während sie die eigentlichen Passstücke als Balken vor dem Gesicht, als eine Art Heiligenschein oder als Nasenprothese tragen.
Eine Gruppe von „Baumbildern“ aus dem Jahr 2019, die in der Ausstellung eng nebeneinander präsentiert werden, ergibt einen artifiziellen Wald. Darin variiert Pils das paradiesische Motiv eines Liebespaares, das sich unter einem Apfelbaum dem Geschlechtsakt hingibt. Aus den Zutaten „Baum“, „Liebende“ und „Äpfel“ entstehen sechs unterschiedliche Kompositionen, in denen Form und Inhalt sowie das Natürliche und das Künstliche unterschiedliche Anordnungen eingehen. In den neuen farbigen Werken arbeitet Pils mit Verwischungen und mit im Abklatschverfahren gefertigten Bildhintergründen. Die dargestellten Personen in der Werkfamilie „Us“ sind dem Künstler vertraut. Er zeigt sie in unterschiedlichen Verhältnissen von Nähe und Distanz, während sich Posen und Gesten wiederholen: besonders markant eine Frau, die kniend ihr langes Haar wäscht, sowie Figuren, die ein Ei halten.
In seiner aktuellen 2025 entstandenen Bilderfamilie beschäftigt sich Tobias Pils in einer Reihe farbiger Stillleben mit der Idee des Genrehaften, mit der existenziellen Dimension, die im Gewöhnlichen steckt. Die Tische in diesen Bildern muten wie Bühnen an; Gefäße, brennende Kerzen und welkende Blumen werden zu Darstellern in Genrestücken, die das Verhältnis von Stillstand und Bewegung, von Fläche und Volumen erproben. „Stillife (Puppe)“ ist eines dieser neuen Werke. Auf dem querformatigen Gemälde steht ein mit grünlich-weißem Tuch und vier Gläsern gedeckter Tisch, an dessen Unterseite ein kleiner Gegenstand andockt, ein Flaschenkorken in Form einer puppenartigen Figur. Abermals rekurriert Pils auf kunsthistorische Vorbilder. Die neuen Werke verweisen sowohl motivisch als auch malerisch auf eine Nähe zu den Stillleben von Edouard Manet, Louis Thevenet, Henri Matisse oder aktueller von Richard Diebenkorn. Seine Bilder sprechen über Bilder und sind zugleich auf eine eigenständige Weise ein Dialog mit der Gegenwart, in dem der Zeitbegriff aufgelöst wird. „Ich finde“, erklärte der Künstler unlängst in einem Interview, „wenn man nicht mit einem Bein in der Vergangenheit steht, kann man mit dem zweiten Bein nicht frei im Neuland navigieren.“
Mit ihrer letzten Ausstellung als Museumsdirektion des Mumok hat Karola Kraus Tobias Pils einen großen Auftritt ermöglicht. Mit der Schau rundet sie ihre vierzehnjährige Amtszeit ab, die 2011 mit einer Ausstellung des 1971 geborenen Wiener Florian Pumhösl begonnen hat. Fatima Hellberg, zuvor Leiterin des Bonner Kunstvereins, hat das Haus am 1. Oktober als neue Mumok-Direktorin übernommen.
Die Ausstellung „Tobias Pils. Shh“ läuft bis zum 12. April 2026. Das Museum Moderner Kunst hat dienstags bis sonntags von 10 bis 18 Uhr geöffnet. Der Eintritt beträgt 18 Euro, ermäßigt 15 Euro. Für Kinder und Jugendliche unter 19 Jahren ist er frei. Der Katalog aus dem Verlag der Buchhandlung Walther und Franz König kostet 48 Euro. |