 |  | Otto Mueller, Großer liegender und kleine stehende Akte in Landschaft, 1925 | |
Der 1893 im Harz geborene Wilhelm Grosshennig gilt als einer der wichtigsten deutschen Kunsthändler während der Weimarer Republik, in Nazi-Deutschland und der jungen BRD. Eine nicht unbedeutende Rolle in seiner Galerie spielte Irmtraut Werner, Jahrgang 1922, die nach Ende des Zweiten Weltkriegs in der anfangs noch in Chemnitz ansässigen Kunsthandlung als Sekretärin arbeitete. Nachdem Grosshennig mit der Galerie 1951 nach Düsseldorf umgezogen war, folgte die ambitionierte und interessierte Werner dem Galeristen als dessen Mitarbeiterin, ließ sich von seiner Begeisterung für den Expressionismus und die französische Moderne anstecken, hatte maßgeblichen Anteil am Erfolg der Galerie und avancierte selbst zur Kunstexpertin. Als Anerkennung für ihre tatkräftige Unterstützung schenkte Grosshennig ihr zum Geburtstag und zur Taufe ihrer Tochter grafische Arbeiten des Expressionismus. Diese Werke sollten die Initialzündung zum Aufbau der eigenen Sammlung werden, die sie auch dann weiterführte, als sie 1965 den Geigenvirtuosen Ricardo Odnoposoff heiratete und ihm nach Wien folgte.
Ihre fast zwanzigjährige Galerietätigkeit war derart prägend gewesen, dass Irmtraut Werner mit Hilfe ihrer alten Kontakte, aber vor allem mit einem sicheren Gespür für Qualität weitersammelte. So kam eine Kollektion mit Werkgruppen der Expressionisten Kirchner, Heckel, Pechstein, Nolde oder Mueller, aber auch der Franzosen Estève, Archipenko, Matisse und Picasso zusammen. Nach Irmtraut Werners Tod 2008 gab ihre Tochter die Sammlung als Leihgabe an die Albertina in Wien, 2012 wurden die Highlights daraus in einer Ausstellung mit eigenem Katalog gezeigt.
Die Vorlieben von Irmtraut Werner
Nun hat das Kölner Auktionshaus Lempertz Teile daraus zur Versteigerung übernommen und präsentiert sie in seiner kommenden Auktionsrunde mit Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts, etwa die spontane, aquarellierte Zeichnung „Großer liegender und kleine stehende Akte in Landschaft“ von Otto Mueller. Mit diesem 1925 datierten Blatt besaß Werner ein charakteristisches Werk des Brücke-Künstlers, der sich seit 1901 mit der Darstellung des nackten Menschen in der Natur beschäftigte und damit Sinnbilder für den paradiesischen Zustand schuf (Taxe 70.000 bis 90.000 EUR). Irmtraut Werner war bei ihrer Sammeltätigkeit bestrebt, Einzelwerke nicht allein stehenzulassen, sondern Folgen zu bilden. So treten in der Tagesauktion etwa Muellers Lithografie „Im Wasser stehendes und am Ufer sitzendes Mädchen“ von 1921/22 (Taxe 7.000 bis 9.000 EUR) und seine mit blauer Kreide schemenhaft gezeichneten „Zwei Akte“ um 1920 hinzu (Taxe 20.000 bis 30.000 EUR), die sie mit Hilfe der Künstlerwitwe komplettierte, ebenso die wenige Jahre jüngere, aquarellierte Kreidezeichnung „Dünenlandschaft mit Sträuchern“ (Taxe 22.000 bis 25.000 EUR).
Das Schaffen Erich Heckels lernte Werner 1965 durch eine Ausstellung in der Galerie Grosshennig kennen. Aus dieser Schau und anderen Quellen fanden mehrere Werke Heckels den Weg in ihre Sammlung, etwa die Aquarelle „Wolken am Meer“ von 1922 (Taxe 7.000 bis 8.000 EUR), „Frau vor Bäumen“ von 1925 (Taxe 12.000 bis 15.000 EUR) und der „Südfranzösische Hafen“ von St. Jean de Luz von 1929 (Taxe 7.000 bis 9.000 EUR). Von Pablo Picasso legte sich Werner unter anderem die Lithografie „Buste au corsage à carreaux“ von 1957 mit dem Profilbild seiner letzten Lebensgefährtin Jacqueline Roque zu. Durch seinen meisterhaften und wie immer experimentierfreudigen Umgang mit den verschiedenen Drucktechniken brachte Picasso die Kreide derart breitflächig auf die Zinkplatte auf, dass er den Effekt einer Frottage erreichte und eine ungewöhnlich malerisch anmutende Grafik entwickelte, deren Reiz er mittels einer feinen Nadel noch erhöhte (Taxe 30.000 bis 40.000 EUR).
Aus dem lange umstrittenen Schlemmer-Nachlass
Die Werke aus dem Nachlass von Oskar Schlemmer teilen sich ebenfalls zwischen der Abend- und der Tagesauktion auf. Nachdem in einem jahrelangen Rechtsstreit zwischen den Erben der Künstlerwitwe Tut Schlemmer im vergangenen Dezember ein Vergleich vor Gericht geschlossen wurde, der auch Schenkungen an ausgewählte Museen umfasst, kommen nun 21 Arbeiten des Bauhaus-Künstlers bei Lempertz zur Auktion. Der Höhepunkt ist die großformatige „Komposition auf Rosa“, mit der Schlemmer 1930 eigenhändig ein Werk des Jahres 1916 rekonstruierte. Zentral ist eine geometrisch vereinfachte Jünglingsfigur in dynamischer Spannung, die Schlemmer als flaches silbernes Holzrelief ausführte. Sie erstreckt sich als Diagonale über das rosafarben grundierte Bildfeld und wird von zwei weiteren, teils aufgelösten figuralen sowie geometrischen Elementen flankiert, die in ihrem Gesamtgefüge einen Eindruck von Räumlichkeit suggerieren. Mit der Stellung zwischen Architektur, Relief und Malerei spiegelt die „Komposition auf Rosa“ den universellen Gedanken des Bauhauses und soll 1,2 bis 1,5 Millionen Euro erwirtschaften.
Das Œuvre Schlemmers ist von der Idee eines rational denkenden Menschen in einer geordneten modernen Welt geprägt. Anhand geometrisch-mathematischer Prinzipien entwickelte der Künstler ein von jeglicher Emotion befreites, entindividualisiertes Menschenbild, das er in Werken an der Schwelle zwischen Malerei und Skulptur zum Ausdruck brachte. Das machen etwa das Bronzerelief „Bauplastik R“ von 1916 mit einer in Rechteckfeldern eingepassten und wiederum geometrisch gefassten Gestalt von 1919 (Taxe 140.000 bis 160.000 EUR) oder das Aquarell „Großer Kopf im Profil“ von 1932 in attraktiven Farbakkorden von Blau, Rosé, Ocker und Braun deutlich (Taxe 70.000 bis 90.000 EUR). Im Zusammenhang mit Schlemmers „Bauhaustreppe“ im New Yorker MoMA steht zudem eine kleine Bleistiftzeichnung von 1928, auf der er einen Entwurf zu seinem wohl bekanntesten Werk festhielt (Taxe 15.000 bis 25.000 EUR). Mit dem „Sechs-Köpfe-Fries“ steht das einzige reine Gemälde aus dem Schlemmer-Nachlass zur Verfügung. Es entstand ab 1930 im Zusammenhang mit Schlemmers Auftrag zur Ausmalung des Rundraums im Museum Folkwang in Essen, hatte aber zunächst keine Funktion mehr, da sich die Bedingungen für die Ausmalung mehrfach änderten. 1935 nahm Schlemmer das Hochformat mit dem Arbeitstitel „Die gelben Männer“ wieder her, drehte es um 90 Grad und übermalte die ursprüngliche Darstellung komplett mit einem Fries von sechs formal reduzierten Mädchenköpfen, abwechselnd in Rückenansicht, im Profil und von vorne, so dass die Köpfe eine scheinbar schwebende bewegte Girlande ergeben (Taxe 600.000 bis 800.000 EUR).
Kubistische Moderne
In diese Preiskategorie reiht sich im „Evening Sale“ am 30. Mai bei Lempertz nur noch ein weiteres Werk ein: Lucio Fontanas dunkelbraunes amorphes flunderartiges Leinwandstück, das der Italiener 1958 auf ein mit Kreisbewegungen in mittelbrauner Pastellkreide bemaltes Leinwandrechteck auflegte und als „Concetto spaziale“ mit mehreren Messerstichen perforierte, soll 600.000 bis 700.000 Euro einspielen. Bei der Moderne folgen preislich auf Schlemmer etwa Max Liebermanns heiterer impressionistischer Sommertag mit „Spaziergängern im Tiergarten (Taxe 300.000 bis 400.000 EUR), Emil Noldes farbkräftiger Küstenausschnitt „Einschiffung“ von 1911 mit einem Pferdegespann, das in der bewegten See auf ein Schiff zusteuert (Taxe 300.000 bis 500.000 EUR), oder Marc Chagalls nachtblaue träumerische Gouache „L’oiseau bleu“ von 1952 (Taxe 350.000 bis 400.000 EUR). Heinrich Campendonk malte seine farbleuchtende Gouache „Komposition mit 2 Figuren“ 1912 in einer wichtigen stilbildenden Phase, als er Mitglied in der jungen Gruppe „Blauer Reiter“ war und Einflüsse von Expressionismus, Kubismus und Futurismus in sein Schaffen integrierte. Die Arbeit, die bisher im Besitz der Familie Campendonk verwahrt wurde, ist mit 220.000 bis 240.000 Euro bewertet.
Vergleichbar ging Paul Adolf Seehaus 1918 bei seinem „Blick in Ebene“ ans Werk und zerlegte die weite Landschaft mit ihren Feldern, Bäumen, Pferden, Häusern und dem Meer sowie dem Himmel in einzelne kubistische Farbfelder. Die friedliche Gouache gehörte einst der Kölner Sammlerin Marie Louise Stadler, die als Jüdin während der Nazi-Diktatur ins Schweizer Exil emigrierte, ihre Habe aber in Deutschland zurücklassen musste, wo sie sich zerstreute. Da Seehaus zu den Rheinischen Expressionisten zählt und als einziger Schüler August Mackes gilt, interessierte sich das Kunstmuseum Bonn besonders für seinen „Blick in Ebene“ und erwarb das Gemälde 1951 von der Galerie Alex Vömel. Erst im Januar wurde das Werk aus dem Bonner Museum an die Erben der Sammlerin restituiert (Taxe 40.000 EUR). Aus der rheinischen Kunstszene offeriert Lempertz mit Heinrich Hoerles „Mädchen am Fenster“ eine Wiederentdeckung. Der empfindsame, fast melancholische Halbakt von 1929 gehört zu einer stilleren humaneren Werkgruppe des sonst sozialkritisch und agitatorisch auftretenden Kölner Malers (Taxe 80.000 EUR).
Der Gaulsche Tiergarten
Eine eigene Suite in der Abendauktion bilden die Tierplastiken von August Gaul. Bis auf eine Ausnahme stammen die 21 Positionen alle aus der Kunstsammlung von Alfred Cassirer, einem Bruder des legendären Berliner Kunsthändlers Paul Cassirer, der mit August Gaul eng befreundet war und den Tierbildhauer exklusiv unter Vertrag hatte. So vermittelte Paul Cassirer seinem Bruder etwa eine freundliche Gruppe von „Drei Pinguinen“ (Taxe 12.000 bis 15.000 EUR), die aristokratischen „Drei Fasane“ (Taxe 10.000 bis 12.000 EUR) oder den nackten jungen „Eselreiter“ (Taxe 7.000 bis 9.000 EUR). Von diesem Haustier ließ sich Gaul 1911 zudem noch zu einem gemütlich „Gehenden Esel“ (Taxe 5.000 bis 7.000 EUR) und seinem Pendant „Trabender Esel“ (Taxe 6.000 bis 8.000 EUR) oder dem wild „Ausschlagenden Esel“ (Taxe 4.000 bis 6.000 EUR), dem „Sich wälzenden Esel“ (Taxe 6.000 bis 8.000 EUR), dem „Liegenden Esel“ und dem „Grasenden Esel“ inspirieren (Taxe je 5.000 bis 7.000 EUR). Über Alfred Cassirers 2009 verstorbene Tochter Eva blieben die Bronzetiere bislang im Besitz der Familie. Im Jahr 1905 erhielt August Gaul den Auftrag, für die Stadt Königsberg eine Brunnenanlage mit dem Motiv zweier kämpfender Wisente auszuführen. Im Vorfeld schuf er dafür eine ausdrucksstarke Modellfassung, die als Unikat aus der Sammlung Oscar Schmitz nur in dem bei Lempertz angebotenen Bronzeguss existiert, was die Schätzung 35.000 bis 40.000 Euro rechtfertigt.
Aus der Nachkriegsepoche gibt es einige Highlights mit dann wieder sechsstelligen Schätzungen, darunter Pierre Soulages’ schwere schwarze Balkenformation aus Nussbeize von 1951 (Taxe 200.000 bis 250.000 EUR), eine kinetische „Sandmühle“ von Günther Uecker, die seit 1966 ihre konzentrischen Kreisbahnen in den hellen Sandkörnern zieht (Taxe 100.000 bis 150.000 EUR), und von Rupprecht Geiger die leuchtende großformatige Farbfeldmalerei „464/67“ aus dem Jahr 1967, bei der ein pinkfarbener Teil schwer auf dem unteren Farbbereich in Zinnoberrot lastet (Taxe 120.000 bis 150.000 EUR). Aus den 1960er Jahren gibt es zudem noch das typische, rein weiße Rasterrelief „Ingevuld 1“ mit Quadratkästchen von Jan Schoonhoven (Taxe 50.000 bis 60.000 EUR) und Joannis Avramidis’ „Kopf II“. Für die Bronzeplastik von 1966 zog der Wiener Bildhauer den menschlichen Köperteil in die Länge, verzichtete auf fast alle körperlichen Merkmale und entwarf eine abstrahierte, allgemeingültige Aussage zum Menschen (Taxe 36.000 bis 40.000 EUR).
Kalkuliertes und freies Spiel
Ein gern gesehener Stammgast bei Lempertz ist seit einigen Jahren der Tscheche Zdenek Sýkora, der diesmal seine freie, bunte, aber dennoch nach genauen Vorgaben konstruierte Kreisspielerei „Linien Nr. 22“ von 1982 für 180.000 bis 230.000 Euro beisteuert. Im selben Jahr malte William Nelson Copley seine „Intolerance“, eine gespaltene Menschenfigur: Die linke Hälfte ist ein nackter Frauenkörper mit blondem Haar, die rechte ein männlicher Anzugträger mit Bowlerhut, die jeweils entgegengesetzt von einer männlichen Halbfigur und einem weiblichen halben dunkelhäutigen Akt begleitet werden. Dergestalt setzte sich Copley spielerisch und zugleich subversiv mit den Kategorien Geschlecht, Rasse, Identität und Konformität auseinander (Taxe 80.000 bis 100.000 EUR). Ein gewisses Maß an Zufall baute Sigmar Polke bei seiner titellosen Arbeit von 1986 ein, indem er die Farbsubstanzen auf einen mit Kreisen bedruckten Nesselstoff goss und sie durch Schwenken des Malgrunds in unvorhersehbare Bahnen lenkte (Taxe 70.000 bis 90.000 EUR). Auch bei seinem Künstlerkollegen Gerhard Richter ist das der Fall. Die bei Lempertz angebotene Arbeit „Ohne Titel (21.06.08)“ von 2008 gehört zu einer Serie von 100 individuell gestalteten Übermalungen, in denen Richter verschiedene gedruckte Architekturpläne als Ausgangspunkt nutzte und das Blatt auf eine Farbpalette drückte, wodurch der bewusste Akt des Malens in ein zufälliges Abklatschverfahren überging (Taxe 100.000 bis 150.000 EUR).
Karin Kneffel plante 1996 ihr hyperrealistisches Gemälde „F. XIX“ dagegen wieder bewusst. Ein überdimensionierter Fruchtzweig mit leuchtend roten, glänzenden Äpfeln und sattgrünen Blättern schiebt sich vor eine weit entfernte, hügelige Landschaft, die durch die präzise gesetzten Bäume beinahe modellhaft wirkt. Mit der extremen perspektivischen Verschiebung verleiht Kneffel ihrem Werk eine surreale Spannung: Der Blick oszilliert zwischen Nah- und Fernsicht, zwischen sinnlicher Opulenz und kartografischer Ordnung (Taxe 150.000 bis 200.000 EUR). Eher willkürlich gesetzt wirken die Kratzspüren auf Imi Knoebels dreiteiligem wandfüllendem „Schwarzem Bild I – Metropolis“ von 1991 (Taxe 100.000 bis 150.000 EUR). Auch bei Jason Rhoades’ „Wiring Harness“ von 1998 herrscht ein gewisses Maß an Unordnung vor. Die wirr zu Kreisformen zusammengebundenen roten und schwarzen Kabelstränge implizieren Bewegung und Fluss und lassen sich als eine Erkundung miteinander verbundener Systeme betrachten. Doch zugleich deutet Rhoades womöglich ironischerweise eine Störung oder Auflösung dieser Systeme an (Taxe 100.000 bis 150.000 EUR).
Der „Modern / Contemporary Art Evening Sale“ beginnt am 30. Mai um 18 Uhr. Der „Day Sale“ folgt am 31. Mai ab 11 Uhr. Die Vorbesichtigung läuft bis zum 28. Mai täglich von 10 bis 17:30 Uhr, am 29. Mai von 11 bis 15 Uhr. Der Internetkatalog ist unter www.lempertz.com abrufbar. |