 |  | Das neue Museum Fenix in Rotterdam | |
Den Besucher*innen von Rotterdam wird die Prozesshaftigkeit der Architektur offensichtlich und ständig vor Augen geführt. Alte Gebäude wurden umgewidmet oder verschwanden, Neues entstand, und immer wieder fanden in den letzten Dekaden außergewöhnliche Projekte breiten Niederschlag in der Fachpresse. Zuletzt sorgte das 2021 eröffnete Schaudepot neben dem Museum Boijmans van Beuningen für internationale Aufmerksamkeit. Rasch entwickelte sich die rundum verspiegelte, von Winy Maas vom Büro MVRDV konzipierte Großfigur einer Tulpenblüte zu einem attraktiven Blickfang und neuen Wahrzeichen in der City. Schon über zehn Jahre ist es her, dass im September 2014 die gewaltige bogenförmige „Markthal“ eröffnet werden konnte, für die gleichfalls Winy Maas ein innovatives Nutzungskonzept aus Markt, Gastronomie, Parken und Wohnen entwickelte. Besonders das vom niederländischen Künstler Arno Coenen in Anlehnung an alte Meister als überdimensioniertes Stillleben entworfene Deckengemälde von über 11.000 Quadratmetern begeistert noch heute die Gäste.
Beklemmend und traurig muten heute Bilder von dem Inferno an, das die Stadt in der zweiten Hälfte der 1940er Jahre durchstand. Aus der zerbombten Trümmerlandschaft ragte völlig verloren die Ruine der gotischen Laurenskerk heraus. Diese, der 1920 vollendete palastartige Rathausbau und das 1935 eröffnete, von Ad van der Steur entworfene Museum Boijmans van Beuningen überstanden in Rotterdam als einzige die Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs oder lebten wieder auf. Doch nun war der Weg für neue stadtplanerische Konzeptionen frei. An die Stelle des einst eng bebauten Stadtkerns entstanden großzügige bauliche Einheiten mit Geschäfts- und Büronutzungen. Erster Höhepunkt war die bis 1953 realisierte verkehrsfreie Einkaufspromenade „Lijnbaan“, die erste ihrer Art in den Niederlanden. Hiermit erschuf das Büro Van den Broek und Bakema ein Symbol des Aufschwunges mit Warenhäusern, Kinos, Hotels. Wohnfunktionen wurden ausgelagert.
In der Folge hinterließen hier sämtliche Phasen der Architekturentwicklung ihre Spuren. Mit viel Kreativität und Innovation versuchten die Planer, Akzente zu setzen. Die 1980er Jahre waren von Solitären wie dem neuen Schauspielhaus oder dem Marinemuseum geprägt. Doch schon zeichneten sich Bemühungen ab, das Wohnen wieder in die Innenstadt zu holen. Markantestes Beispiel sind dafür die 1984 vollendeten würfelförmigen Kubushäuser von Piet Blom. In den 1990er Jahren bestimmten groß angelegte Verkehrsprojekte das Baugeschehen. Mit dem Bau des Willemsspoortunnel wurde die Bahnlinie durch die Stadt unterirdisch verortet und der Bau des 2014 eröffneten Hauptbahnhofes Rotterdam Centraal mit seinem markanten, spitz zulaufendem Dach in Angriff genommen. Die historische, auf das Jahr 1878 zurückgehende Eisenbahn-Hubbrücke aus Fachwerkträgern blieb als Industriedenkmal bestehen. Als letzte Verbindung vor der Mündung des Rhein-Maas-Deltas in die Nordsee wurde 1996 die markante Erasmusbrücke eröffnet. Die von den Architekten Ben van Berkel und Caroline Bos vom UN Studio entworfene Schrägseilbrücke dominiert seither mit dem 139 Meter hohen, angewinkelten Pylon die Silhouette der Stadt.
Direkt angrenzend liegt der 1895 eröffnete Rijnhaven. Zunächst als Waren- und Umschlagort, später als Liegeplatz für überwinternde Binnenschiffe genutzt, wurde für das zentrale, nunmehr funktionslos gewordene Areal vom Planungsbüro „Powerhouse Company“ ein Masterplan erstellt, der sich mittlerweile in der Umsetzung befindet. Ein Drittel des alten Hafenbeckens wurde zur Errichtung von Wohnhäusern mit insgesamt 3.000 Wohnungen verfüllt. Die Anlage eines Sandstrandes, durch Stege und Brücken verbundene schwimmende Parks, Geschäfte, Restaurants oder Grünzonen werden das acht Hektar große Areal mit Neubauten, deren Formen und Volumina variieren, zu einem attraktiven neuen Stadtviertel aufwerten. Auch einige historische Lager- und Backsteinbauten werden restauriert und neuen Nutzungen zugeführt.
Das neue Nederlands Fotomuseum
Dazu gehören zwei neuen Museen auf der zwischen dem Rijnhaven und dem Maashaven gelegenen Halbinsel Katendrecht. In einem der besten erhaltenen historischen Lagerhäuser ist das nationale Museum für Fotografie eingezogen. Entworfen von den Architekten J.P. Stok und J.J. Kanters, diente das 1903 vollendete Backsteingebäude der Lagerung von importiertem Kaffee aus Brasilien. Sein von der brasilianischen Hafenstadt Santos entlehnter Name weist bis heute darauf hin. Dank einer Spende der Stiftung Droom en Daad konnte das Pakhuis Santos erworben und zum festen Domizil für das im Jahr 2003 gegründete Nederlands Fotomuseum umgebaut werden. Die Kosten der Investition bewegen sich im mittleren zweistelligen Millionenbereich.
Bei der Umwandlung in ein Museum ging das in Hamburg ansässige Architekturbüro RHWZ aus Karin Renner, Rolf Hainke, Stefan Wirth und Melanie Zirn sensibel vor. Die fünf im Originalzustand erhaltenen Regelgeschosse mit ihren Holzbalkendecken, gusseisernen Stützen und Trägern wurden behutsam restauriert und vermitteln typisches Lagerhausflair. Mittig wurde ein durch alle Etagen führendes, Licht spendendes Atrium mit einem neuen Treppenhaus eingefügt. Der offene Grundriss und die weitgehend geschlossenen, kaum Tageslicht einlassenden Fronten sind für die Präsentation lichtempfindlicher Fotografien ideal. Während im Keller eine Dunkelkammer untergebracht ist und im Hochparterre Shop, Café, Bibliothek sowie Veranstaltungssäle ihren Platz finden, werden in den historischen Obergeschossen ein Schaudepot mit Sonderausstellungsbereichen sowie eine Ehrengalerie zur niederländischen Fotogeschichte eingerichtet. Sie vermittelt einen Überblick von der frühesten Daguerreotypie aus dem Jahr 1842 bis hin zu zeitgenössischen Digitaldrucken.
Mit über 6,5 Millionen analogen und digitalen Fotografien, Dias und weiteren Stücken gehört das Spartenmuseum zu den größten seiner Art weltweit. Im sechsten, zurückversetzten Obergeschoss entsteht ein Restaurant. Darüber erhebt sich in der Form einer gezackten Krone die neu aufgesetzte, gefaltete Dachlandschaft. Die offen als neue Zutat ersichtliche Ergänzung gestalteten die Architekten von RHWZ als lichtdurchlässige perforierte Aluminiumhülle, deren Spitzen die ursprüngliche Lage der Windenhäuser über den nunmehr verschlossenen Geschosstoren akzentuieren. Im obersten Geschoss befinden sich moderne Büros und Appartements.
Das Fenix beschäftigt sich auch künstlerisch mit weltweiter Migration
Fußläufig entfernt direkt am Kai des Rijnhavens gelegen, öffnet Mitte Mai mit dem „Fenix“ ein weiteres imposantes Museum die Tore für das Publikum. Das Migrationsmuseum will die Geschichte der globalen Wanderung durch Begegnungen mit Kunst, Architektur, Fotografie und historischen Dokumenten vermitteln. Auch dieses Museum entstand durch Umwandlung eines historisch bedeutsamen Lager- und Umschlaghauses. Mit einer ursprünglichen Länge von 360 Metern gehörte es zum Zeitpunkt der Eröffnung 1923 zu den größten seiner Art weltweit. Im Auftrag der Holland-America Line, die maßgeblich den Passagier-Liniendienst von Migranten in die USA bediente, schuf der Architekt Cornelis Nicolaas van Goor einen Aufbewahrungsort für die Habseligkeiten von Auswanderern, die von hier aus getrennt befördert wurden. Nach verheerenden Kriegszerstörungen in zwei Teile getrennt, wurde ein Teil kulturellen Nutzungen zugeführt.
Nach Entwürfen des chinesischen Architektenteams MAD um Ma Yansong begannen 2020 die Restaurierungs- und Umbauarbeiten. In die grünen Stahlfenster- und Betonrahmenkonstruktionen sind teils raumhohe Glasfronten eingesetzt. Im ersten Obergeschoss wird die Ausstellung „Alle Richtungen – Kunst die je bewegt“ zu sehen sein. Künstler*innen aus der ganzen Welt sind vertreten, darunter Rineke Dijkstra, Do-Ho Suh, Francis Alÿs, Steve McQueen, Adrian Paci, Yinka Shonibare, Kimsooja und Shilpa Gupta, die großformatige Installationen, Videoprojektionen, Gemälde oder Skulpturen zur Ausstattung des Museums beigesteuert haben. Die Künstler*innen Beya Gille Gacha, Efrat Zehavi, Chae Eun Rhee, Raquel van Haver und Hugo McCloud arbeiten derzeit an neuen Arbeiten für Fenix, die jeweils ihre eigene Perspektive auf Migration haben. Seite an Seite mit der Kunst stellt die Sektion „All Directions“ eine Reihe historischer Objekte vor, darunter etwa Pässe oder originale Passagierlisten der Holland-America Line. So bietet sich eine Mixtur aus Kunstwerken und historischen Objekten zu Themen wie Identität, Heimat, Grenzen und Glück.
Attraktion des Museums sind zwei durch das gesamte Haus gewundene, gegeneinander verdrehte Wendeltreppen, die durch das Dach nach oben ins Freie stoßen und wie ein wirbelnder Tornado in einer Aussichtsplattform auf 30 Metern Höhe münden. Die Holzkonstruktion ist mit einer glänzenden Oberfläche verkleidet und führt über 335 Holzstufen auf den Gipfel. Hier bietet sich ein Überblick über das Hafenviertel von Rotterdam, von dem Millionen Menschen ihre Heimat in Richtung Neue Welt verließen. Ma Yansong will den Tornado als Symbol für das turbulente Reisen und Leben der Migranten verstanden wissen. |