Unter dem Titel „Living Pits“ ist aktuell in der Galerie Zink in Waldkirchen bei Neumarkt in der Oberpfalz eine Ausstellung des Foto- und Videokünstlers Erkan Özgen zu sehen. Es handelt sich um die erste Einzelausstellung des international renommierten türkischen Künstlers in Deutschland. Özgen hat bereits an zahlreichen Biennalen und Großausstellungen teilgenommen, darunter an der Documenta, der Manifesta und den Biennalen in Sydney und Istanbul. Seine Werke befinden sich in wichtigen institutionellen und privaten Sammlungen, so im Centre Georges Pompidou in Paris, in der Tate Modern in London, der Pinault Collection in Paris und der Sammlung Verbund in Wien. Die Galerie Zink, Özgen weltweit exklusiv vertritt, präsentiert nun Videos und großformatige Fotografien.
Erkan Özgen, der 1971 in der südostanatolischen Provinz Mardin an der Grenze zu Syrien zur Welt kam, heute in der nahgelegenen Metropole Diyarbakir lebt und vorwiegend mit den Medien Video, Videoinstallation, Fotografie und Performance arbeitet, kreiert Werke von politischer Relevanz, die auch durch ihre ästhetischen Qualitäten überzeugen. Seine überwiegend Ein- oder Mehr-Kanal-Videoarbeiten zeichnen sich durch eine sensible Auseinandersetzung mit Themen wie Krieg, Gewalt, Flucht, Migration, Traumata, Manifestationen politischer Macht, Unterdrückung von Minderheiten und Identität aus. Daneben realisiert Özgen gerade in letzter Zeit Arbeiten, die sich mit den Folgen des Klimawandels beschäftigen.
Living Pits
In diese Themengruppe fällt die neue Arbeit „Living Pits“ aus dem vergangenen Jahr, die jetzt der Schau in der Galerie Zink ihren Titel gibt. Zuvor wurde „Living Pits“ zusammen mit weiteren Videoarbeiten von Erkan Özgen im derzeitigen Interimsquartier der Münchner Villa Stuck in einem einwöchigen Screening gezeigt. Im Rahmen dieser Präsentation fand Ende Januar ein Artist Talk statt. Teilnehmer des Gesprächs waren neben Erkan Özgen der italienische Kunsthistoriker Andrea Lissoni, Direktor am Haus der Kunst in München, und der Berliner Kulturjournalist Ingo Arend, der sich seit vielen Jahren schwerpunktmäßig mit Kunst und Kultur der Türkei beschäftigt. Dies war nicht das erste Mal, dass Kunst von Erkan Özgen in München zu sehen war. Bereits 2017 hatte Bernhart Schwenk, Kurator für zeitgenössische Kunst an der Pinakothek der Moderne, die Arbeit „Wonderland“ in eine Gruppenausstellung integriert und für die Sammlung erworben.
In „Living Pits“, zu Deutsch etwa „Lebende Grube“ oder „Lebendes Erdloch“, ist Erkan Özgen selbst der Hauptdarsteller. Das Video ist nur eines von zwei Filmen, in denen der Künstler als Protagonist auftritt. Die Kamera fährt zunächst in Nahsicht über die von der Sonne ausgedorrte, Risse und Spalten aufweisende Oberfläche eines ausgetrockneten Sees oder Flusses. Im Off bereits hörbar ist ein schwer atmender, offenbar bereits etwas älterer Mann. Dazu der Sound einer Spitzhacke, mit der der harte Boden bearbeitet wird. Schließlich erweitert sich der Kamerablick, und wir sehen einen bärtigen Mann in Jeans und verschwitztem T-Shirt, der bereits auf etwas Restfeuchtigkeit gestoßen ist und die Spitzhacke jetzt durch einen Spaten ersetzt, um ein kleines Loch auszuheben.
In der nächsten Einstellung nähert sich der Mann dem Erdloch mit zwei vollen Wassereimern. Aus dem einen füllt er das Erdloch mit Wasser. Aus dem anderen holt er nach und nach mehrere karpfenähnliche Fische hervor, um diese in dem kleinen Wasserloch auszusetzen. Die Kamera fängt das wilde Umherspringen der Fische in dem für ein dauerhaftes Überleben viel zu kleinem Biotop ein. Im Hintergrund sehen wir, wie der Mann sich daran macht, das nächste Loch auszuheben. Sein symbolisch aufgeladenes Tun erinnert an eine Art Fruchtbarkeitsritual oder Schöpfungsakt. Der Mensch, gemeinhin als höheres Wesen gelesen, schafft Lebensraum für einfachere Kreaturen.
Allein die Tatsachen, dass die Sonne unermüdlich weiter brennen wird und der Protagonist bereits jetzt am Ende seiner körperlichen Kräfte angekommen zu sein scheint, lassen jedoch Zweifel am langfristigen Erfolg seiner Aktion aufkeimen. Sein Vorhaben ähnelt einer Sisyphos-Aufgabe ohne absehbares Ende. Dennoch vermittelt diese Arbeit ein Signal des Aufbruchs und der stillen Hoffnung auf Verbesserung. Vielleicht bedarf es einfach vieler weiterer Mitstreiter, die es dem Protagonisten von „Living Pits“ gleichtun und nicht nur ein kleines, sondern viele größere Wasserlöcher ausheben und mit Wasser und lebenden Kreaturen befüllen. So kann „Living Pits“ als Appell an das Verantwortungsgefühl des Individuums gelesen werden, den von Menschen verursachten Klimawandel und die damit einhergehende Zerstörung von Lebensräumen einzudämmen und das ökologische Gleichgewicht wieder herzustellen.
Künstlerische Praxis
Erkan Özgen gelingt es, in seinen meist relativ kurzen, oft eindringlich inszenierten Videos vielschichtige politisch-gesellschaftliche Sachverhalte auf eine Weise zu visualisieren, die das Publikum sowohl emotional berührt, als auch zum Nachdenken anregt. Dies erreicht er unter anderem dadurch, dass er sich auf seine Protagonist*innen intensiv einlässt, ihnen mit großem Respekt vor deren oft traumatischen Lebenserfahrungen begegnet und ihre Schicksale auf empathische Art filmisch vermittelt, ohne sie auf sensationslüsterne Manier vorzuführen.
Dabei vermeidet Özgen in seinen Arbeiten bewusst explizite Darstellungen von Gewalt. Er ist davon überzeugt, dass diese Bilder den Betrachter*innen aus den klassischen Nachrichtenmedien hinlänglich bekannt sind und aufgrund ihrer professionell-journalistischen Distanziertheit zu Abstumpfungseffekten geführt haben. Stattdessen setzt er auf subtile visuelle Strategien, um die Auswirkungen von Konflikten auf das Individuum und die Gesellschaft zu untersuchen.
Wonderland
Die 2016 entstandene, knapp vierminütige Videoarbeit „Wonderland“, die ebenfalls Teil der Ausstellung in der Galerie Zink ist, lässt sich als Paradebeispiel für Erkan Özgens künstlerische Methode beschreiben. In diesem Werk mit dem eher unbekümmert-leichtlebig klingenden Titel erkundet er die Frage, inwiefern sich tief im Bewusstsein eines traumatisierten Individuums abgespeicherte Erfahrungen und Emotionen Außenstehenden überhaupt vermitteln lassen. Als Protagonisten hat Erkan Özgen hier einen dreizehnjährigen taubstummen Jungen ausgewählt, der aus der nordsyrischen Stadt Kobanê stammt. Mohammed, so sein Name, war gemeinsam mit seinen Familienangehörigen der 107 Tage währenden Belagerung der Stadt durch den Islamischen Staat (IS) ausgesetzt. Während dieser Zeit, so lassen seine nahezu performativen Gesten und Darstellungen vermuten, erlebte er abgrundtief Schreckliches. Tatsächlich musste er mit ansehen, wie Dorfnachbarn, aber auch sechs seiner eigenen Cousins vom IS ermordet wurden.
Unter Verzicht auf sprachliche Äußerungen vermittelt das Spiel des Taubstummen, allein durch Gesten und Mimik, alle Varianten von Brutalität und Menschenverachtung, die man sich vorstellen kann. Mohammed zeigt, wie Menschen gefesselt, geschlagen, gestoßen, erschossen und sogar geköpft werden. All das auf eine sehr drastische und abgeklärte Weise – fast so, als kenne er gar keine Alternative zu einer Welt voller Unbarmherzigkeit und Verrohung. Mohammed, der sich aufgrund seiner Behinderung nicht sprachlich äußern kann, bringt in dieser kurzen Sequenz das Unaussprechliche zum Ausdruck. Dennoch gibt es kein gemeinsames Maß zwischen dem Darsteller und seinem Publikum. Er, der dies alles erlebt hat, kann nur versuchen, uns eine Ahnung von dem Erlebten zu vermitteln. Was bleibt, ist die Inkommensurabilität zwischen seinem unmittelbaren Betroffensein und unserer Betroffenheit als hilflose Betrachter*innen.
Zustande gekommen ist diese Arbeit eher durch einen Zufall. Die Familie des Jungen hatte es nach ihrer Flucht über die syrisch-türkische Grenze ausgerechnet nach Derik verschlagen, die Stadt, aus der Erkan Özgen stammt. Özgen schafft mit dieser bewegenden Arbeit ein emotional berührendes Identifikationsangebot jenseits des permanenten Bilderstroms der Newsticker und Fernsehnachrichten.
Harese
Doch „Wonderland“ ist nur ein Beispiel seines vielfältigen künstlerischen Tuns. Özgen beschäftigt sich intensiv mit den langfristigen Folgen von bewaffneten Konflikten. Er thematisiert nicht nur die physischen Verletzungen, sondern auch die psychischen Verwüstungen und Traumata, die durch Kriege oder sonstige Gewalterfahrungen verursacht werden, so zum Beispiel in seiner Arbeit „Harese“ aus dem Jahr 2020. Der aus dem Arabischen stammende Titel bedeutet so viel wie „Gefährliche Leidenschaft“. Seine Protagonist*innen sind hier keine Kinder sondern von Kriegserlebnissen gezeichnete Erwachsene. Erkan Özgen hat für diese Arbeit US-Veteran*innen gecastet, die im Irak eingesetzt waren. Die Gruppe besteht aus Angehörigen verschiedener Ethnien, Männern genauso wie Frauen, Jüngeren genauso wie Älteren. Ein bärtiger Mann sitzt im Rollstuhl.
Drehort ist der Joshua-Tree-Nationalpark in Kalifornien, eine wüstenartige Landschaft mit bizarren Felsformationen und einer spezifischen Baumart, die dem Park ihren Namen gegeben hat. In unmittelbarer Nachbarschaft davon befindet sich der große Truppenübungsplatz Twentynine Palms, von wo aus regelmäßig Detonationen zu hören sind. Hier, wo auch zahlreiche Hollywood-Filme gedreht wurden, lässt Erkan Özgen seine Darsteller mit Schnellfeuergewehren, Handgranaten, Patronenhülsen und anderen Kriegsmaterialien hantieren. Jedoch keineswegs so, wie man es erwarten würde. Alle Waffen sind dysfunktional. Sie werden von den Darstellenden entgegen ihrer früheren Zweckbestimmung verwendet – und zwar als Perkussionsinstrumente.
Element Hoffnung
„Wenn ich noch einmal geboren würde, würde ich alle Panzer und Waffen einschmelzen und daraus Musikinstrumente machen.“ Von dieser Textzeile des kurdisch-armenischen Sängers Aram Tigran (1934-2009) hat sich Erkan Özgen zu dieser Arbeit inspirieren lassen. Er äußert sich dazu so: „Mein Ziel ist es nicht, die Kriegstraumata der Soldaten zu heilen, sondern vielmehr auf die zerstörerischen Auswirkungen des Krieges aufmerksam zu machen. … Kriege betreffen nicht nur Soldaten … Krieg verursacht psychischen Schaden bei der gesamten Menschheit. In der Welt, in der wir heute leben, wo mehrere Kriege stattfinden und die Antikriegsstimmen ungehört bleiben, habe ich das Gefühl, dass sich Gesellschaften in einem ‚psychotischen Trauma‘ befinden. Mit dieser neuen Videoinstallation möchte ich die Antikriegshaltung stärken und die Bedeutung des Friedens hervorheben.“
Gerade an dieser Arbeit wird deutlich, dass Erkan Özgen trotz der Schonungslosigkeit, mit der er politische und gesellschaftliche Krisen und Traumata in den Fokus seiner Werke rückt, auch das Element Hoffnung nicht unberücksichtigt lässt. Seine Kunst steht immer auch für die Botschaft: Ja, es gibt Schlimmes auf dieser Welt, aber es gibt auch immer die Aussicht, dieses Schlimme zu überwinden.
Dark in Dark
Eine frühere Videoarbeit von Erkan Özgen hat Galerist Michael Zink ebenfalls für die Schau in Waldkirchen ausgewählt. Sie stammt aus dem Jahr 2012 und trägt den Titel „Dark in Dark“. In der knapp sieben Minuten langen Ein-Kanal-Videoarbeit trägt eine junge Frau einen langen schwarzen Rock und ein schwarzes Kopftuch. Sie befindet sich in einer kargen, leicht hügeligen Landschaft mit ausgetrocknetem Boden, nur einige Büsche wachsen im felsigen Hintergrund. Die Szene wird von einer überirdischen Stromleitung dominiert. Die Frau hantiert in dem Video mit einem längeren Seil. Mit Hilfe eines Steins, den sie am Ende des Seils befestigt, gelingt es ihr schließlich, das Seil über die Stromleitung zu werfen. Die Betrachter*innen werden zunächst im Unklaren darüber gelassen, was als Nächstes passiert.
Zu einer suizidalen Handlung, wie man hätte vermuten können, kommt es jedoch nicht. Stattdessen nimmt die Protagonistin ihr Kopftuch ab und funktioniert es zu einer schwarzen Flagge um, welche sie an dem Seil nach oben zieht und im Wind flattern lässt. Erkan Özgen benutzt hier ein gerade im islamischen Kontext äußerst ambivalent aufgeladenes Symbol. Einerseits steht die schwarze Flagge ganz wertfrei für die Macht und Stärke des Islams an sich. Andererseits werden mit ihr jedoch auch sogenannte Märtyrer betrauert. Gerade durch ihren Gebrauch durch islamistische Gruppen wird sie von westlichen Beobachter*innen als Symbol für Extremismus und Terrorismus gedeutet. Darüber hinaus könnte sie aber auch als anarchistisches Symbol gelesen werden. Auf jeden Fall kann die Transformation des Schleiers zu einer symbolträchtigen Fahne als ein antipatriarchaler Akt der Befreiung und der weiblichen Selbstermächtigung gelesen werden.
Eine ähnliche Stoßrichtung hat in der Ausstellung die Fotografie „The De-gassed Lady“ aus dem Jahr 2013. Hier tritt eine junge Frau in gestreifter Bluse auf, deren Haare wie mit Lockenwicklern aufgedreht sind. Doch was auf den ersten Blick wie das Werbemotiv eines Friseurgeschäfts wirkt, verstört dann doch bei näherem Hinsehen. Statt Lockenwicklern hat die Protagonistin leere Tränengashülsen im Haar. Die Aufnahme thematisiert damit einerseits die alltägliche Polizeigewalt in Özgens Heimat, aufgrund der subversiven Zweckentfremdung der Hülsen als Lockenwickler führt sie diese andererseits ironisch ad absurdum.
Parallel zur Schau „Living Pits“ in der Galerie Zink läuft im Kunsthaus Graz noch bis zum 25. Mai die Gruppenausstellung „Poetics of Power“. Im Begleittext wird diese folgendermaßen beschrieben: „Die Ausstellung ‚Poetics of Power‘ zeigt die komplizierte und mehrdeutige Natur der Macht auf, die bei der Gestaltung zwischenmenschlicher, kultureller, nationaler und wirtschaftlicher Dynamiken allgegenwärtig und ständig reproduzierbar ist.“ Hier ist von Erkan Özgen die Arbeit „Wonderland“ ebenfalls mit von der Partie.
Die Ausstellung „Erkan Özgen – Living Pits“ ist noch bis zum 23. Februar zu sehen. Die Galerie Zink hat sonntags von 14:30 bis 18 Uhr und nach Vereinbarung geöffnet. Der Eintritt ist frei. |