 |  | in der Ausstellung „Liliane Lijn. Arise Alive“ | |
Liliane Lijn sagte einmal, dass Künstlerinnen ihren Sinnen folgen „with little or no acceptance of predetermined moulds“ – mit wenig oder gar keiner Akzeptanz vorgegebener Formen. In der Tat hat die US-Amerikanerin in den letzten sechs Jahrzehnten ihres bisherigen Schaffens immer wieder mit konventionellen Strukturen gebrochen und Werke kreiert, die eine Brücke zwischen Kunst und Wissenschaft schlagen, indem Lijn Technologie und oft auch die griechische Mythologie nutzt, um Themen der weiblichen Identität und des Universums zu erkunden.
Bevor Karola Kraus im Herbst die Leitung des Museums Moderner Kunst Stiftung Ludwig (MUMOK) an ihre Nachfolgerin Fatima Hellberg übergibt, bietet sie einer bisher zu wenig beachteten Künstlerin die Gelegenheit, ihr komplexes Werk in Wien vorzustellen. Die gemeinsam mit dem Haus der Kunst erarbeitete Personale „Arise Alive“, die letzten Sommer in München zu sehen war, zeigt die gleichen Exponate nun in einer anderen, sichtbar beruhigten Ausstellungsarchitektur. Manuela Ammer, die die Wiener Schau kuratiert hat, arrangierte die Werke zu zeitlich und inhaltlich miteinander korrespondierenden Gruppen und präsentiert viele der kinetischen und akustischen Objekte in separaten Raumkojen.
Liliane Lijn scherte sich nie um Genregrenzen: Malerei, Skulptur, Schrift und Sound gehen bei ihr nahtlos ineinander über, genauso wie Spiritualität und Mathematik. Lijn, die 1939 in New York geboren wurde, übersiedelte Ende der 1950er Jahre nach Paris, um Kunstgeschichte und Archäologie zu studieren, und kam dort mit dem Surrealismus in Kontakt. Dessen Fokus auf den Traum und das Unbewusste prägte den Beginn ihres künstlerischen Schaffens. Eine ihrer frühen Zeichnungen trägt den Titel „The Beginning“. Das auf das Jahr 1959 datierte Werk zeigt auf einem kreisförmigen Papier einen Strudel aus Wolken und gebirgsartigen Formationen um ein flammendes Zentrum. In Lijns eigenen Worten handelt es sich um ein „Unbewusstes, das um einen feurigen, konzentrierten Kern herumwirbelt und sich von ihm löst“. Quasi als Vorwegnahme ihrer fortdauernden Auseinandersetzung mit Energie und Dynamik, ebenso wie ein Hinweis ihrer Suche nach mythologischen Ursprüngen und deren Darstellung bildet das Blatt den Auftakt der Schau.
Zeitgleich entstand die Serie „Sky Scrolls“, die ein frühes Beispiel für Lijns Interesse an östlicher Philosophie sowie Himmelsbildern und Kosmologie ist. Arbeiten dieser Werkgruppe leiten zu den „Poem Machines“ über, die Lijn erstmals 1962 realisierte. Die Werkgruppe steht sinnbildlich für ihre Beschäftigung mit kinetischer Kunst, Licht, Bewegung und Text. Inspiriert von den Forschungen des französischen Physikers Augustin Jean Fresnel zur Lichtbrechung entwickelte Lijn ein Werk, in dem die Energie des Klangs sichtbar wird. In den ersten „Poem Machines“ dreht sich eine motorisierte Metalltrommel so schnell, dass die Betrachter*innen eher mit der Vibration der Worte als mit einem lesbaren Text konfrontiert werden. Bewegung wird nicht mehr nur dargestellt, wie etwa in „The Beginning“, sondern ist selbst konstruktiver Teil der Arbeit. Aus Gedichten befreundeter Poet*innen extrahiert Lijn einzelne Bedeutungselemente. Für „Arise Alive“ etwa, jene „Poem Machine“ aus dem Jahr 1965, die für die Ausstellung titelgebend ist, verwendete Lijn ein Gedicht von Leonard D. Marshall mit Begriffen wie „Fear“, „Friend“, „Arise“ und „Alive“.
Wortwörtlich löst Lijn Sprache aus ihrem Kontext und konterkariert die lineare Syntax des Gedichts mit der stoischen Bewegung der Maschine. Sie beschleunigt die Wörter und „befreit“ sie damit nicht nur von ihrem Träger, sondern auch von ihrer fixen Bedeutung. In der Rotation lösen sich die Wörter auf, werden zu Schwingungen, zu einer bewegten Form von Poesie. In ihrer dynamischen und visuellen Behandlung von Sprache stehen Lijns „Poem Machines“ am Schnittpunkt zweier zentraler Kunstbewegungen der Mitte des 20. Jahrhunderts: der Kinetischen Kunst und der Konkreten Poesie. Sie sind frühe Beispiele für die interdisziplinäre Ausrichtung von Lijns Werk sowie für ihre Wertschätzung für die Funktionalität und Ästhetik von Maschinen.
Nachdem Liliane Lijn einige Jahre in Athen verbrachte hatte, wo sie den griechischen Künstler Takis heiratete, zog sie 1966 nach London, wo sie noch heute lebt und arbeitet. Unmittelbar nach den „Poem Machines“ nahm sie die Arbeit an einer Serie auf, die in ihrem Œuvre eine zentrale Rolle spielt und bis heute fortgesetzt wird: die sogenannten „Koans“. Statt Zylinder verwendet die Künstlerin für diese Skulpturen nun Kegel, die sich auf motorisierten Plattformen um die eigene Achse drehen. Ihre Oberflächen markieren Buchstaben, Wörter mathematische Formeln oder schlichte konzentrische Linien. Augenscheinlich handelt es sich bei diesen Linien um Flächen aus fluoreszierendem Plexiglas, die die Kegel in ungleiche elliptische Abschnitte unterteilen. Durch die Beleuchtung von innen erscheinen diese in der Betrachtung als Linien, die sich auf der drehenden Skulptur rhythmisch auf- und abbewegen und an die Umlaufbahnen von Planeten denken lassen.
Vorstellungen von Bewegung und Dynamik griff Lijn auch in mehreren Zeichnungsserien auf, an denen sie im Verlauf der 1970er Jahre arbeitete, um sie mit Strategien des Unbewussten und Prinzipien der Kartografie zu kombinieren. Mit „Flow Lines“ betitelte sie eine Serie minimalistischer Bleistiftzeichnungen. Mit wiederholend aneinander gereihten grafischen Markierungen suchte Lijn den Prozess des Zeichnens selbst als fortwährenden Fluss und gerichtete Energie begreifbar zu machen.
Einen entscheidenden Wendepunkt im Schaffen von Liliane Lijn markieren die „Female Figures“. Durch ihre Erfahrungen als Frau und beeinflusst von der zweiten Welle des Feminismus setzte sie sich Anfang der 1980er Jahre immer stärker mit dem Körper auseinander. Hatte sie in ihren Skulpturen bislang mit vorwiegend abstrakten Formen gearbeitet, so rückte nun die Auseinandersetzung mit dem menschlichen Körper ins Zentrum ihrer künstlerischen Gestaltung: die bizarr wirkenden Objekte stehen annähernd lebensgroß und ohne Sockel direkt auf dem Boden, werden zu einem Gegenüber der Betrachter*innen. Damit einher geht Lijns Reflexion über Geschlechterzuschreibungen. Sie fertigt ihre weiblichen Figuren bewusst aus industriellen Materialien wie Aluminium oder Stahl, die einem tradierten Verständnis nach maskulin konnotiert sind und kombiniert sie mit weichen Texturen wie Federn bei „Feathered Lady“ von 1979 oder synthetischen Bürstenfasern „Heshe“ von 1980. In Zwillingsfiguren wie „Queen of Hearts“ und „Gemini“ von 1984 konfrontiert Lijn die Betrachter*innen mit dualen Identitäten, die gegensätzlich und doch miteinander verbunden sind.
Mit der performativen Installation „Conjunction of Opposites“, die 1986 auf der Biennale di Venezia vorgestellt wurde, erhielt Liliane Lijns Schaffen erstmals größere Aufmerksamkeit. Die Figurengruppe, die in der Wiener Schau in einem abgedunkelten Kabinett präsentiert wird, zeigt zwei weibliche Figuren in einem Dialog: „Lady of the Wild Things“ von 1983 und „Woman of War“ von 1986. Beide Skulpturen zählen zu einer Gruppe von Arbeiten, die Lijn als „Cosmic Dramas“ bezeichnet und in denen Sound, Bewegung und Lichteffekte ein theatrales Gesamtkunstwerk ergeben. Die beiden Skulpturen, die Lijn in „Conjunction of Opposites“ aufeinander bezieht, verweisen auf mythologische, gegenpolig gedachte Wesen: „Lady of the Wild Things“ verkörpert nach Lijns Verständnis eine frühe griechische Schutzgöttin der Natur. Sie setzt diese antike Gottheit als technisch aufwendig konzipierte und auch in ihrer Anmutung hochartifizielle Figur um, die akustische Signale in dynamische Lichtmuster übersetzen kann: ein Archetyp des Rezipierens oder Empfangens in betont technischem Gewand. Demgegenüber steht die „Woman of War“ für aktive und nach außen gerichtete Energien wie Aggression und Wut. Im Verlauf des Performance-Dramas singt diese kriegerische Gestalt in Lijns Stimme eine Warnung an die Menschheit, worauf ihr Gegenstück mit Lichtsignalen reagiert.
Ein weiterer Glanzpunkt der Schau ist die „Electric Bride“, die letzte Figur aus Lijns „Comic Dramas“. Mit dieser Figur widmet sich Lijn einem weiteren weiblichen Typus: der Braut. In einen Stahlkäfig gesperrt, scheint die aus mundgeblasenem Glas, Messing und aus Schichten von mineralischem Mikanit gefertigte überlebensgroße Figur von innen heraus zu leuchten. Mit der Stimme der japanischen Sängerin Shirai Takako ist ein Gedicht zu hören, in dem Lijn sich auf den Mythos der sumerischen Göttin Inanna und deren Abstieg in die Unterwelt bezieht. Manuela Ammer interpretiert „Electric Bride“ als Gegenentwurf zum kunsthistorischen Topos der Junggesellenmaschine, der unter anderem Marcel Duchamp Anfang des 20. Jahrhunderts beschäftigt hat und in dem die Braut allein durch den männlichen Blick definiert wird.
Ein eigener Ausstellungsbereich nimmt Bezug auf Lijns Schaffen aus den 1960er und 1970er Jahren, insbesondere auf jene Arbeiten, in deren Zentrum die Beschäftigung mit Licht und Energie, dem Materiellen und dem Immateriellen steht. In den Wandobjekten, Skulpturen und experimentell anmutenden Installationen jener Zeit setzt die Künstlerin Licht und Bewegung mithilfe von innovativen Werkstoffen wie Plexiglas oder synthetischem Polymer als Gestaltungsmittel ein. Ab Mitte der 1960er Jahre nutzte sie optische Prismen, die das Licht in seine Spektralfarben aufbrechen. Farbe wird in einer einfachen, aber wirkungsvollen Geste als das sichtbar, was sie ist: gestreutes Licht. Ein einprägsames Ergebnis dieser Experimente mit Licht und Bewegung sowie Ausdruck von Lijns Interesses an Astronomie und Physik sind die „Liquid Reflections“. Die meditativ wirkende Installation besteht aus einer hohlen Plexiglasscheibe, die Wasser enthält und sich um ihre eigene Achse dreht. Durch die Rotation kondensiert die Flüssigkeit zu Tropfen, die natürliche Linsen bilden. Auf der Oberfläche der Scheibe befinden sich zwei Plexiglaskugeln, deren Bewegung von zwei gegenläufigen Kräften bestimmt ist: der Zentrifugalkraft der rotierenden Scheibe und der Zentripetalkraft ihrer konkaven Wölbung. Von einer fixen Lichtquelle beleuchtet werden die Kugeln zu Vergrößerungsgläsern, die ein dynamisches und unvorhersehbares Wechselspiel von Licht und Schatten erzeugen.
Auf dem Weg durchs Treppenhaus fällt schließlich noch ein von der Decke hängendes, aus silbrig glänzendem Stoff gefertigtes Objekt ins Auge, dessen Faltenwurf an einen Rock denken lässt. Zu Beginn jeder Stunde aktiviert ein Motor das Objekt, versetzt es in eine immer schneller werdende Drehbewegung, die den Stoff anhebt und in eine wirbelnde Figur verwandelt. Mit „Shimmering“ von 2024 und verwandten Werken wie „Spinning Dolls“ von 2015 und „Gravity’s Dance“ von 2019 spricht Lijn kosmische Kräfte an, die Materie und Geist mobilisieren. Diese Arbeiten lassen an die Gravitationskräfte schwarzer Löcher denken, an den ekstatischen Wirbel von Sufi-Derwischen und auch an Lijns frühe Zeichnung „The Beginning“, in der Materie um einen feurigen Kern kreist. Wie die Ausstellung „Medardo Rosso - Erfindung der modernen Skulptur“, die noch bis 23. Februar läuft, ist auch die aktuelle Personale zu Liliane Lijn großartig inszeniert: ein Dokument weiblicher Stärke, das in Anbetracht seiner Vielgestaltigkeit und Bandbreite überrascht und beeindruckt.
Die Ausstellung „Liliane Lijn. Arise Alive“ ist bis zum 4. Mai zu sehen. Das Museum Moderner Kunst hat dienstags bis sonntags von 10 bis 18 Uhr geöffnet. Der Eintritt beträgt 17 Euro, ermäßigt 14 Euro. Für Kinder und Jugendliche unter 19 Jahren ist er frei. Der Katalog aus dem Verlag der Buchhandlung Walther und Franz König kostet 38 Euro. |