 |  | in der Ausstellung „Jugendstil. Made in Munich“ | |
Am Anfang steht ein Peitschenhieb. So bezeichnete der Volksmund den züngelnden, von Blüten und Blättern ergänzten Pflanzenstängel auf dem Wandbehang „Alpenveilchen“ von Hermann Obrist aus der Mitte der 1890er Jahre. Der Entwerfer lehnte sich nicht an vorherige Stile an, sondern orientierte sich vielmehr an der Natur. Dabei stand nicht die korrekte Wiedergabe der Zyklame im Fokus, sondern die in wallenden Schwüngen zum Ausdruck gebrachte Kraft der Bewegung. Bei der Ausführung durch die Münchner Stickerin Berthe Ruchet fanden verschiedene Sticharten Verwendung. Das Licht schillert auf den glänzenden Seidenfäden, so dass eine plastische Reliefwirkung entsteht. Das von der Natur gelöste Ornament besitzt keine Funktion mehr und ist autonom. Als man die textile Arbeit erstmals im Münchner Kunstsalon Littauer am Odeonsplatz zeigte, war dies eine Sensation. Damit begann der Jugendstil in München.
Besonders verbunden war die junge Kunstrichtung mit einer Erneuerung der Textilkunst. Bildteppiche erlangten als Bestandteil der Raumausstattung an Bedeutung. Darauf verweist ebenso der Wandbehang „Fünf Schwäne“ um 1898. Prägnante Linienführung, starke Farbkontraste, ein hohes Format und die flächige Gestaltung deuten zugleich die Inspiration des Entwerfers Otto Eckmann durch japanische Farbholzschnitte an. Der Wandteppich gilt heute als Ikone des Jugendstils und hängt in der Münchner Schau neben einem Buffet von Richard Riemerschmid, dessen klare kastenförmige Konstruktion und reduzierte geschwungene Ornamentik einem analogen Duktus folgt. Das Möbel war bereits auf der 1897 im Glaspalast abgehaltenen „VII. Internationalen Kunstausstellung“ zu sehen, auf der seinerzeit „moderne Kleinkunst“ lediglich eine Rolle am Rande spielte, jedoch beim Publikum viel Anklang fand. Die Jugendstilbewegung war nicht mehr aufzuhalten, und in München, das damals neben Paris den Ruf als Kunsthauptstadt genoss, gelangte die neue Ausdrucksform mit Macht zur Blüte. Herausragende Museen, ein florierender Kunsthandel und exzellente Ausbildungsmöglichkeiten ließen die Isar-Metropole zu einem Zentrum des Kunstgewerbes werden.
„Jugendstil. Made in Munich“ – unter dieser Überschrift präsentiert die Kunsthalle München derzeit eine reichhaltig bestückte Schau, deren 430 Objekte alle Facetten de neuen Richtung vorstellen. Dank der großzügigen, überschaubaren Säle in der Kunsthalle der Hypo-Kulturstiftung gelang dem Kuratorenteam aus Roger Diederen und Anja Huber von der Kunsthalle und Nico Kirchberger und Antonia Voit vom Münchner Stadtmuseum ein weit ausgedehntes Arrangement der Präsentation. Es lässt allen Stücken genügend Raum und nimmt abwechslungsreich spannende Aspekte in den Fokus, so dass ermüdender Langatmigkeit erfolgreich entgegensteuert wird. Möglich war diese Schau nur aufgrund der erst für 2031 avisierten Wiedereröffnung des derzeit wegen Renovierung geschlossenen Stadtmuseums, das allein 300 Exponate aus seiner reichhaltigen Kollektion zum Münchner Jugendstil beisteuert. Daher bietet sich nun die Chance, die Bewegung in einer seltenen Breite und Reichhaltigkeit zu erleben. Alle nur denkbaren Sparten wie Malerei, Grafik, Fotografie, Skulptur, Design, Mode, Schmuck und Textilien bis hin zur Architektur finden Berücksichtigung, gepaart mit einer breiten Auffächerung an Materialien vom Stoff über Glas, Metall, Keramik bis zum Holz.
Besonders relevant macht diese Schau die prägnante Wiedergabe einer Umbruchzeit, die eine Nähe zu heutigen Ereignissen erkennen lässt. Der Umgang mit der Natur, Umweltschutz, Transformation in der Arbeitswelt, gesunde Ernährung, Mitbestimmung oder Genderfragen sind auch derzeit wieder Themen von Belang. Publizistische Sprachrohre waren seinerzeit zwei in München erscheinende Schriften, das satirische Blatt „Simplicissimus“ und die schön, gut und flott aufgemachte Zeitschrift „Jugend“. Bunt und von Künstlern gestaltet, setzte sie Maßstäbe, ihr Name ging auf den Stil über. Der von der „Jugend“-Redaktion bevorzugte Münchner Maler und Grafiker Fritz Erler gestaltete in der Ausgabe vom 29. Januar 1900 eine Doppelseite mit dem Gemälde „Rübezahl auf Reisen“, begleitet von einer gereimten Erzählung Fritz von Ostinis, ein Beispiel dafür, wie Märchen, Mythen und Sagen in die Kunst des Jugendstils eingingen. Jetzt ist das von flächiger Raumstaffelung gekennzeichnete, psychedelisch gefärbte Landschaftsgemälde mit tanzenden nackten Mädchen und Kindern nach langen Jahren erstmals wieder öffentlich zu sehen. Hier wird auch deutlich, dass der Jugendstil keine einheitliche Kunstform war, sondern ein Potpourri impliziert, in dem Strömungen wie der Symbolismus, der Naturalismus, der Impressionismus und der Historismus aufeinandertrafen. Besonders bei Möbeln von Richard Riemerschmid, einem der profiliertesten Vertreter des Münchner Jugendstils, lassen sich Referenzen an den Historismus erkennen wie etwa zinnenbesetzte Bekrönungen oder gotisierende Beschläge, die auch Truhen von Hermann Obrist zieren.
Zu den Höhepunkten der Präsentation gehört die neu geschaffene Nachbildung des Fassadenreliefs des „Hof-Ateliers Elvira“ in der Von-der-Tann-Straße. Das ausdrucksstark bewegte, vom Volksmund als „Drache“ bespöttelte Ornament mit skurril-fantastisch anmutenden Zügen war ein Markenzeichen des Münchner Jugendstils und wurde 1937 abgeschlagen, bevor dann 1944 Bomben das Haus komplett zerstörten. Die beiden Fotografinnen und Eigentümerinnen, Anita Augspurg und Sophia Goudstikker, waren innerhalb der regionalen Frauen- und Queerness-Bewegung Personen, die die gesellschaftliche Ordnung hinterfragten. Dies spiegeln in Zusammenhang damit präsentierte Kleider. Als Reaktion auf die vorherrschende einengende Mode kam nach 1898 auch hier eine Reformbewegung in Gang. Im Fokus stand die Bewegungsfreiheit, die eine Freiheit im Geist und Körper implizierte. Die neue Mode blieb jedoch ohne gesellschaftliche Akzeptanz. Dies verdeutlicht zugleich das zentrale Anliegen des Jugendstils, eine Kunst zu erschaffen, die das Leben bis ins Detail durchdringen und in viele Bereiche des Alltags Einzug halten sollte. Jedoch konnten sich dies nur Besserverdienende leisten.
Besonders in der Plakatkunst führt die Ausstellung noch einmal die wesentlichen Charakterzüge des Jugendstils vor Augen. Die junge, Massen erreichende Kunstform, für die sich später ein wichtiger Sammlermarkt etablierte, besticht durch homogene Flächeneinteilung, abgetönte signalhafte Farbgestaltungen, Konzentration auf Wesentliches, scharf gezogene vereinfachte Linien, klare Konturen und starke Kontraste. Werbeutensilien wurden zur Reklamekunst aufgewertet. Anerkannte Künstler bedienten sich dieses Mediums. Die flächige markante Formensprache erfasste rasch weitere Bereiche der angewandten Künste. Geometrisch konstruierte Möbel oder die kräftige Farbwahl bei Raumgestaltungen zeichneten bereits den Weg in die Abstraktion vor. Dies führt auch der sorgfältig vom Deutschen Kunstverlag gestaltete Katalog mit Abbildungen sämtlicher Exponate vor Augen. An die Stelle langatmiger Texte treten erfreulich verständlich und konkret formulierte Berichte zu einzelnen Aspekten und Sparten, die sich nicht in Einzelheiten verlieren und auf wenigen Seiten präzis das Wesentliche vermitteln.
Die Ausstellung „Jugendstil. Made in Munich“ ist bis zum 23. März zu sehen. Die Kunsthalle München hat täglich von 10 bis 20 Uhr geöffnet. Der Eintritt beträgt 18 Euro, Senioren zahlen 14 Euro, Studierende und Auszubildenden 8 Euro, Kinder und Jugendliche bis 17 Jahre 4 Euro. Der Ausstellungskatalog aus dem Deutschen Kunstverlag kostet in der Kunsthalle 29 Euro, im Buchhandel 45 Euro. |