| | Stanley Whitney, The language of nature, 2005 | |
Das Markenzeichen von Stanley Whitneys Kunst sind in mehreren Reihen übereinander gestapelte, bunte, rechteckige Farbblöcke, die manchmal eine Binnenstruktur aufweisen können und fast immer durch kraftvolle Farbbalken unterteilt sind. Mit diesem Zugang zur Farbabstraktion hat sich der 1946 in Philadelphia geborene Afroamerikaner in die Herzen der Sammler eingeschrieben. Seine Werke vermitteln eine strenge formale Ordnung, aber auch die Spontaneität des malerischen Gestus. Dabei lässt sich Whitney vom Jazz inspirieren. „Um die Zeit, als ich in der Highschool war, also etwa 1964, hörte ich Ornette Colemans „Shape of Jazz to Come“, John Coltranes „Love Supreme“, Thelonious Monk, Charles Mingus und andere; diese Musiker waren für mich eine große Offenbarung. … Als ich dann das erste Mal auf die Kunstschule ging, dachte ich bei Cézanne an Charlie Parker und an Rhythmus“, betonte Whitney in einem Interview. So changiert seine quadratische Leinwand „The language of nature“ aus dem Jahr 2005 mit fünf Reihen an unterschiedlich großen Farbrechtecken auch zwischen einer strengen Geometrie und einem freien malerischen Ausdruck. Für marktgerechte 300.000 bis 500.000 Euro ist diese Spielwiese für chromatische Erkundungen nun im Dorotheum zu haben.
Blättert man im Katalog zur Auktion „Zeitgenössische Kunst“ weiter voran, so bleibt man etwas erstaunt an einer Position hängen, die jener Stanley Whitneys verblüffend ähnlich sieht. Auch Imi Knoebel geht um die Erkundung von farblichen Qualitäten im Zusammenspiel mit Form und Raum und um das daraus resultierende sinnliche Erlebnis, doch gönnt er sich bei seiner Farbrechteckreihung „Basel Fenster no. 2“ keine ungenaue, aus dem Lot geratene Malerei, sondern arbeitet als Minimalist stets präzise, streng und klar die geometrischen Parameter ab. Das „Basel Fenster no. 2“ schuf Knoebel 2020 als einen von sieben Entwürfen mit Unikatcharakter für das „Basler Fenster“ in der „Imi Bar“ im von Herzog & de Meuron gestalteten Designhotel „Volkshaus Basel“ (Taxe 45.000 bis 60.000 EUR). Ebenso exakt und akkurat ging Imi Knoebel 2019 bei seiner dreiteiligen Arbeit „Anima Mundi 31-3“ vor, bei der vier unterschiedlich farbige Balken ein hochrechteckiges, monochromes Farbfeld rahmen (Taxe 70.000 bis 90.000 EUR).
Überhaupt feiert die ungegenständliche Kunst in der Auktion fröhliche Urständ. Von den etwas über hundert Losnummern entfällt nur rund ein Viertel auf figurative Arbeiten. Aus der gestischen Kunst steuern etwa Karl Otto Götz sein großformatiges dynamisches Gemälde „Tudal“ von 1959 in schwarzen diagonalen Schwüngen bei (Taxe 50.000 bis 70.000 EUR), Jean-Paul Riopelle ein pastos gespachteltes kleines Quadrat in hellen Farben mit viel Weißanteil von 1964 (Taxe 65.000 bis 85.000 EUR) und Emilio Vedova seine kraftvolle Leinwand „Compresenze/Tensione ‘82 (Passa Van Gogh)“ von 1982 (Taxe 250.000 bis 350.000 EUR) und die ins Dreidimensionale übertragene Malerei „Plurimo Nr. 6 nego“ von 1962/63 (Taxe 80.000 bis 120.000 EUR). In den Raum dringt Agostino Bonalumi mit seinem blutroten Reliefbild „Rosso“ von 1968 samt runder Ausstülpung vor (Taxe 100.000 bis 150.000 EUR).
Eine neue Zeichensprache
Mehrere italienische Künstler*innen haben in den 1950er und 1960er Jahren zeichenhafte Formen verwendet, die an Buchstaben erinnern, etwa Giuseppe Capogrossi 1951/53 bei seiner „Superficie AC/540/OT“ (Taxe 70.000 bis 100.000 EUR), Carla Accardi 1954 bei ihrem „Fondo nero“ (Taxe 35.000 bis 50.000 EUR), Antonio Sanfilippo bei einem zwei Jahre jüngeren, dichten Gewusel in Grau, Schwarz und Weiß (Taxe 40.000 bis 60.000 EUR) oder Giulio Turcato 1956/57 bei seiner „Composizione Rosso e Nero“ (Taxe 25.000 bis 35.000 EUR). Als Maler und Dichter verknüpfte Toti Scialoja diese beiden Hemisphären 1962/63 in seiner Arbeit „Salan“, in der er auf einer Holzplatte zarte Gazestreifen und Seile mit Überschriften aus Zeitungen collagierte (Taxe 15.000 bis 25.000 EUR).
„Der organisch schöpferische Akt ist hier also vielleicht noch wesentlicher als das fertige Bild; denn die Teilnahme an der schrittweisen Umnachtung beziehungsweise Ertränkung des Bildes, seinem allmählichen Eingehen in die Ruhe und Unsichtbarkeit (der „große Ozean“) könnte man vergleichen mit dem Erlangen der Kontemplation im religiösen Leben.“ So beschreibt Arnulf Rainer sein künstlerisches Tun, wie es sich etwa in seiner „Blauen Übermalung“ von 1956 ausdrückt (Taxe 130.000 bis 220.000 EUR). Auf der anderen Seite sieht er die von „Lautstärke und Pathos“ geprägte Aktionsmalerei, etwa in Hermann Nitschs wandfüllendem, dunkelviolettem „Schüttbild“ von 1990 (Taxe 70.000 bis 130.000 EUR) oder in dem aufgerissenen, kämpferisch zerstörten „Überladenen Bild“, einer Gemeinschaftsarbeit von Otto Muehl und Erika Stocker aus dem Jahr 1961 (Taxe 80.000 bis 120.000 EUR). Ein freundschaftlich mit Arnulf Rainer verbundener Künstlerkollege war Friedensreich Hundertwasser. 1958 machte er sich Rainers Übermalungsmethode zu Eigen und überdeckte die „Peinture sur Ancien Rainer II“ mit seinen Spiralgärten und den kleinen Flurstücken (Taxe 100.000 bis 180.000 EUR).
Naturgedanken
Auch für Max Weiler war die Natur der Ausgangspunkt seiner ungegenständlichen Malerei. Das macht etwa seine „Asphodeloswiese“ von 1986 deutlich, die mit feinen Blütengespinsten, einem schwarzen schlanken Baumstamm, etwas Erdig-Grünem und einem Himmelsbogen bestückt ist (Taxe 50.000 bis 80.000 EUR). Bernard Frizes großformatiges Werk „Mona“ von 1993 scheint in seinen zerfließenden Rosatönen ebenfalls ein landschaftliches Phantasma aus mehreren Hügeln oder ein vegetativer Organismus zu sein (Taxe 90.000 bis 140.000 EUR), ebenso Franz Grabmayrs dagegen farbintensiver „Kampfelsen“ von 1976 (Taxe 45.000 bis 70.000 EUR). Seit gut zehn Jahren erlebt die 84jährige Martha Jungwirth mit ihrer intuitiven gestisch-poetischen Abstraktion ihre späte Wiederentdeckung. Das schlägt sich inzwischen auch in den Preisen nieder. So kostet ihre zwei Meter breite, titellose Farbballung von 2015 in Rot-, Blau- und Weißtönen sowie deren Mischungen inzwischen 180.000 bis 280.000 Euro. In diese Preiskategorie reiht sich Maria Lassnig mit ihrem deformierten Körper „Innerhalb und außerhalb der Leinwand II“ von 1984/85 ein, mit dem sie ihre Stellung als Malerin in der Kunstwelt untersucht (Taxe 160.000 bis 300.000 EUR).
War schon Lassnigs Gemälde von der Figuration geprägt, so tritt sie bei US-amerikanischen Künstler*innen vollends in Erscheinung, darunter bei Tom Wesselmann, der seinen gesichtslosen Akt „Study for Mel’s Model“ von 1982/84 zu einem grafischen Zeichen reduziert hat (Taxe 120.000 bis 160.000 EUR). Aus der Pop Art meldet sich zudem Andy Warhol mit einem seltenen Werk zu Wort: Das Bildnis von „Marcel Proust“ schuf Warhol 1974 im Auftrag der Schweizer Kunsthändlerin Marie-Louise Jeanneret für eine Gruppe italienischer Sammler aus Turin, die nicht selbst portraitiert werden, vielmehr ein Konterfei ihres verehrten französischen Schriftstellers haben wollten (Taxe 280.000 bis 380.000 EUR). Seit den 1970er Jahren inszeniert sich Cindy Sherman in ihren Fotografien selbst und reflektiert damit über die kollektive sowie individuelle Identität, etwa 2002 auch als blonde Frau mit wallender Lockenpracht, einem tief dekolletierten kobaltblauen Seidenkleid, einem maskenhaften Makeup und den wie zum Schutz unterhalb der Brust verschränkten Armen, wobei dieses Rollenbild merkwürdig berührt (Taxe 70.000 bis 90.000 EUR).
Zwischen Figuration und Abstraktion
An das Energiegeladene der Futuristen erinnern Mario Schifanos fragmentarische Schrittfolge „A la Balla“ von 1965, die sich direkt auf Giacomo Ballas berühmtes Gemälde „Ragazza che corre sul balcone“ aus dem Jahr 1912 bezieht (Taxe 90.000 bis 120.000 EUR), und Sandro Chias „Noi siamo ragazzi molto coraggiosi“ von 1980/81 mit einem lärmenden kubistischen Auto und einem stark gestikulierenden Mann (Taxe 50.000 bis 70.000 EUR). Als wandfüllenden Scherenschnitt gestaltete Thomas Houseago 1996 aus schwarzem Kunstleder einen wohl weiblichen Akt, der ein übergroßes Huhn auf seinem Unterarm trägt (Taxe 50.000 bis 70.000 EUR). Die Klaviatur zwischen Figuration und Abstraktion spielt Herbert Brandl eindrucksvoll, etwa in seiner titellosen, blau gesättigten Gebirgsformation mit einem Bergsee aus dem Jahr 2005 (Taxe 80.000 bis 120.000 EUR). Während man bei Jonas Burgert nie genau weiß, was seine meist dystopischen Szenarien genau aussagen, etwa bei einem Interieur von 2005 mit toten menschlichen Gestalten, einem kleinen Knaben mit Pistole und dem Ausblick auf einen Winterwald samt Wolf (Taxe 80.000 bis 120.000 EUR), wollen die Portraits von Amoako Boafo nichts als die Repräsentation der Dargestellten sein. Mit seinen Bildnissen von Freunden, Bekannten, Verwandten sowie Personen des öffentlichen Lebens eröffnet der ghanaische Maler neue Perspektiven auf schwarze Identität, etwa auch in der ruhig liegenden Gestalt „Teju“ von 2016 (Taxe 70.000 bis 100.000 EUR).
Beim Bildhauerischen der Auktion im Dorotheum dominiert das Gegenständliche. Jörg Immendorffs grob behauene Holzskulptur „Die Versuchung des Heiligen Antonius“ von 1989 ist das originale Modell zu der Serie von dreizehn Bronzegüssen mit dem Titel „Der Sieger“, der seine Arme euphorisch in die Höhe streckt und zufrieden lächelt (Taxe 90.000 bis 140.000 EUR). Etwas abwesend erscheinen die beiden entindividualisierten Gesichter, die Stephan Balkenhol 1986 auf seinen Reliefs „Köpfe Mann und Frau“ schnitzte und teils farbig fasste (Taxe 50.000 bis 70.000 EUR). Aus einem gusseisernen Totenkopf, einem Feldstecher, zwei Spiegeln samt Leuchten und einer schwarzen Feder baute Rebecca Horn 2007 ihre kinetische Installation „Watching the sea“, mit der sie feinsinnig und nachdenklich Themenbereich wie die menschliche Existenz oder die Grenzen zwischen Natur und Kultur, Technologie und biologischem Leben sowie deren Auflösung streift (Taxe 30.000 bis 45.000 EUR). Selbstironisch geht Erwin Wurm vor, wenn er in seinem voluminösen „Fat Car“ von 2001 künstlerisch-plastische Prozesse wie Ab- und Zunehmen lustvoll kommentiert (Taxe 75.000 bis 140.000 EUR). Aber ganz ohne Abstraktion kommt auch die Skulptur nicht aus, etwa mit Mauro Stacciolis sechs Meter breitem, scharfkantigem und spitz zulaufendem Kreissegment aus Cortenstahl von 2003 (Taxe 50.000 bis 70.000 EUR).
Die Auktion „Zeitgenössische Kunst“ startet am 20. November um 18 Uhr. Die Besichtigung ist bis zum Auktionsbeginn täglich von 10 bis 18 Uhr möglich, der Internetkatalog unter www.dorotheum.com abrufbar. |