| | Dieter Stein, Ohne Titel, 1958 | |
„Die Kunst dient dazu, uns die Augen auszuwischen.“ Diese von Karl Kraus stammenden Zeilen, getippt auf ein Blatt Schreibmaschinenpapier, zusammen mit zahlreichen weiteren Bemerkungen und Gedanken Dieter Steins, sind ein Fund in seinem Nachlass. Knapp und pointiert ist hier formuliert, was auch seine Auffassung war, seiner Malerei und seinem unermüdlichen Zeichnen bei allen Selbstzweifeln immer wieder Sinn verlieh. Wer war der Künstler, der sich und die Welt ständig infrage stellte, mit seinen frühen abstrakten Bildern das Publikum irritierte und in seiner Lehrtätigkeit als Kursleiter den „Mut zum Sehen“ vermitteln wollte?
Dieser Frage geht derzeit die Ausstellung „Dieter Stein – ‚die Augen auswaschen‘“ im Würzburger Museum im Kulturspeicher nach. Anlass ist der 100. Geburtstag, den der am 20. Dezember 2022, gut einen Monat vor Vollendung seines 99. Lebensjahres, in seiner Heimatstadt Würzburg verstorbene Künstler am 24. Januar dieses Jahres gefeiert hätte. Zu sehen sind rund 130 Gemälde, Zeichnungen und Druckgrafiken aus dem fast achtzig Jahre währenden Schaffen Dieter Steins. Deutlich wird dabei nicht nur das individuelle Werk eines Einzelnen, sondern auch die Bedingungen eines Künstlerlebens mit dem beeindruckenden Aufstieg zu einem wichtigen Protagonisten der deutschen Nachkriegsmoderne, aber auch dem plötzlichen Abbruch dieser Karriere aufgrund äußerer und innerer Entwicklungen.
1924 in Würzburg als Sohn eines Essig-Fabrikanten geboren, entfaltete Dieter Stein früh seine zeichnerische Begabung. Die auf das Jahr 1940 datierte Bleistiftstudie einer rechten Hand dokumentiert dies eindrucksvoll. Präzise sind die feinen Adern und kleinen Fältchen, aber auch die durch das offenbar hohe Alter des unbekannten Modells bedingten leichten Verformungen der einzelnen Glieder wiedergegeben. Zwei Jahre später hielt der 18jährige in Feder und Aquarell eine herbstlich entlaubte Baumgruppe während einer „Überschwemmung bei Heidingsfeld“ fest. Von einer grünen, schon halb im Wasser liegenden Rasenfläche aus geht der Blick über einen eingezäunten Weg auf die kahlen Bäume, die ihre bizarren Äste in den trüben Wolkenhimmel recken. Mit den beiden Blättern sind zugleich die wichtigsten Themen markiert, die das gegenständliche Frühwerk Dieter Steins bestimmen sollten: Landschaft und Figur.
Dabei blieb Dieter Stein zeitlebens Autodidakt. Nur informell erhielt er Unterricht durch den gegenständlichen Maler Josef Versl, über den er weitere Künstler kennenlernte. Darunter war Alfred Kubin, der dem jungen Mann anlässlich eines Besuchs in dessen oberösterreichischem Domizil Zwickledt 1942 eine Bleistiftzeichnung widmete. Ferner nannte Stein Karl Caspar, der sich vor den Demütigungen durch die Nationalsozialisten ins oberbayerische Brannenburg bei Rosenheim zurückgezogen hatte, einen seiner Lehrer. Eher in theoretischer Hinsicht bestimmend wurde der an der Universität Würzburg lehrende Kunsthistoriker Emil Kieser. Besonders dessen Eintreten für die moderne, insbesondere die nonfigurative Kunst sollte wichtige Impulse setzen.
Tatsächlich wandte sich Stein schon bald nach dem Zweiten Weltkrieg, den er zum Teil als Soldat mitmachte, der abstrakten Malerei zu. In der „Komposition 54“ aus dem Jahr 1949 ist eine amorphe Form, die nur in den Umrissen einem weiblichen Oberkörper entspricht, in ein flächiges Gebilde aus blau-grünen Feldern mit spitz über die Vertikale zuckenden Linien eingespannt. Entfernt an Pablo Picasso und Henri Matisse, aber auch an den Bildhauer Henry Moore erinnert der liegende Frauenakt auf einem Aquarell wohl etwa der gleichen Zeit, der es sich auf einer blau-grünen Badematte bequem gemacht zu haben scheint und nur an der rechten Seite mit seinen Extremitäten auf den glühend roten Sandstrand hinausragt.
Wenig später gelangte Dieter Stein zur völligen Ungegenständlichkeit. Ein recht frühes Werk dieser Schaffensphase ist das hochrechteckige „Bild 8/53“. In einem schmalen, an der unteren Kante offenen Rahmen aus Gelb breitet sich vor vertikal gestreiftem Hintergrund in Rottönen ein komplexes Gespinst aus feinen Linien, kantigen Flächen und elliptisch gerundeten Ringen in kontrastreichen, aber sich nicht beißenden Farben aus. Trotz des ungegenständlichen Ansatzes stellen sich Assoziationen mit Naturgegebenem ein. So erinnert die das Bild in voller Höhe durchmessende blaue Gitterform an ein Kleid mit schmalen Bändern, und wie Paletten scheinen die beiden sich überlagernden Formen auf die Arbeit des Künstlers zu verweisen. Gleichwohl sind Steins Kompositionen auch ohne solche möglicherweise nicht implizit beabsichtigten Verweise Werke eigenen Rechts, die ihre überzeugende Wirkung aus der genau kalkulierten Anordnung der Formen, der farblichen Harmonie und nicht zuletzt der technischen Präzision beziehen.
Obgleich er nie eine akademische Ausbildung genossen hatte, wurde der überregionale Kunstbetrieb bald auf Dieter Stein aufmerksam, und vor allem die zweite Hälfte der 1950er und die frühen 1960er Jahre dürfen als die in seinem äußeren Werdegang erfolgreichste Zeit angesehen werden. Stein gelang es, an bedeutenden Gruppenausstellungen teilzunehmen, etwa 1954 an der vierten Ausstellung des Deutschen Künstlerbundes im Haus des Deutschen Kunsthandwerks in Frankfurt am Main. In den darauffolgenden Jahren belieferte er Schauen in Wiesbaden, Aachen, Recklinghausen, Kassel, Hannover Paris, Frankfurt und Kaiserslautern sowie eine Wanderausstellung in Japan. Gelegentlich gingen sogar die Ausstellungsplakate und Katalogcover auf seine Entwürfe zurück.
1960 erhielt er das Stipendium der Deutschen Akademie Rom Villa Massimo, verbunden mit einem halbjährigen Aufenthalt in der Ewigen Stadt 1960/61. Zugleich jedoch markiert diese Zeit eine Wende in Leben und Werk Steins. Die buntfarbigen, bisweilen fast verspielten Kompositionen wichen einer schweren, beinahe düsteren Haltung. Zwar hellte sich die Farbpalette bald wieder auf, zum Stil der 1950er Jahre aber kehrte Stein nicht wieder zurück. Stattdessen wurden seine Kompositionen nun kristalliner, in Differenziertheit und Tiefe mehrdimensionaler, auch reicher und gewissermaßen esoterischer. Eine 1964/69 entstandene großformatige Komposition ist dafür ein anschauliches Beispiel: Auf der hochformatigen Fläche liefern sich große, sich von den Rändern her ins Bildinnere schiebende, grundsätzlich querrechteckige Flächen von nur leicht im Ton sich verändernder Monochromie ein kontrastvolles Wechselspiel mit kleinen, paillettenartig sich überlagernden Schichten unterschiedlicher Farben, das verschachtelte Tiefenräumlichkeit suggeriert.
Äußerlich vollzog sich der Wandel um 1960 in einer deutlich verringerten Beteiligung am Ausstellungs- und Wettbewerbswesen in der Bundesrepublik. Es scheint, als habe Dieter Stein Kunstbetrieb und Kunstmarkt eine immer größere Skepsis entgegengebracht und davon Abstand genommen. Um Kunstpreise bemühte er sich gleichfalls nicht mehr, und abgesehen von einer erfolglosen Bewerbung an der Städelschule in Frankfurt scheint es ihn ebenso wenig gedrängt zu haben, offizielle Anerkennung beispielsweise durch einen Lehrauftrag oder gar eine Professur an einer bedeutenden Kunsthochschule zu erringen.
Möglicherweise sah er im Stil der 1950er Jahre keine hinreichenden Ausdrucksmöglichkeiten mehr. Zugleich verzichtete er auf das wirklich monumentale Format. Von wenigen Ausnahmen wie der gut zweieinhalb Meter breiten Arbeit „Großen abstrakten Komposition“ aus dem Jahr 1958 abgesehen, haben seine Gemälde überwiegend mittlere Größe. Den Drang, wie etwa Emil Schumacher, Gerhard Hoehme oder Gotthard Graubner das Publikum mit riesigen Bildern auf sich aufmerksam zu machen und sie im Ausstellungs- und Museumsbetrieb wirkungsvoll zu platzieren, scheint Stein nie verspürt zu haben. Dazu mögen äußere Entwicklungen gekommen sein: Die abstrakte Malerei der ersten Nachkriegszeit hatte Ende der 1960er Jahre ihren Zenit überschritten und wurde abgelöst von neuer Figuration, Aktionskunst, Happening und Pop Art.
Eine enge Freundschaft verband ihn mit dem in Frankfurter ansässigen Bildhauer Günther Berger; ihren Gemeinschaftsarbeiten ist ein eigener kleiner Abschnitt in der Würzburger Ausstellung gewidmet. Die abstrakte Malerei ist jedoch nur ein – wenn auch sehr wesentlicher – Bestandteil des Gesamtwerkes von Dieter Stein. Ein weiterer, mindestens ebenso wichtiger und künstlerisch bedeutender Teil ist sein zeichnerisches und grafisches Œuvre. Hier offenbart sich der Meister von einer anderen Seite. Denn in seinen Arbeiten auf Papier blieb Stein überwiegend der Gegenständlichkeit und Figuration verpflichtet, und man würde die beiden lebenslang parallel laufenden Werkgruppen kaum für das Erzeugnis desselben Künstlers halten.
Dabei strebte Dieter Stein auch in seinen Akten, die einen der Schwerpunkte seiner Zeichnungen bilden, nach Reduktion und Konzentration. Schon ein frühes Blatt aus dem Jahr 1960 zeigt dies: Aus wenigen schwarzen Kreidestrichen ist die menschliche Figur gefügt. Unwillkürlich stellt sich die Assoziation mit der kindlichen Kritzelei eines Strichmännchens ein und ist von Stein sicherlich nicht unbeabsichtigt. Daneben gibt es Zeichnungen, bei denen die Formen gerundeter, aber nicht weniger ausdrucksstark, ja geradezu entfesselt sind. Häufig spritzte und kleckste die rasch gezogene Feder über das Papier, später verwendete er auch Kugelschreiber, grub die Stifte tief in den Trägergrund hinein, bis regelrechte Löcher und Risse entstanden, und erzeugte somit dadurch eine plastische Wirkung. Daneben reizte ihn stets die künstlerische Auseinandersetzung mit der Tradition des eigenen Faches, mit künstlerischen Vorläufern wie Lucas Cranach oder Peter Paul Rubens’ berühmtem Ölbild „Der Raub der Töchter des Leukippos“.
Die mittleren 1990er Jahre brachten im abstrakten Schaffen Dieter Steins noch einmal eine große Neuerung: Ab 1996 entstanden Werke, die Stein gelegentlich als „Bagatellen “ bezeichnete, Hunderte im Format oft identische Bilder, in denen der Künstler anfangs gelegentlich drei, später meistens nur zwei monochrome Farbflächen gegeneinandersetzte oder in komplizierten Konturen miteinander verzahnte. Sie traten an die Stelle der bisherigen detaillierten Ausfüllungen. Dabei erprobte er die mitunter bewusst beißenden Farbkontraste auf Basis desselben Kompositionsmusters häufig in mehreren farblichen Varianten, und das im Abstand von mehreren Jahren: Eine blau-graue Fläche, die sich 2002 von oben allmählich über einen fahlgelben Grund ergießt, taucht zwei Jahre später als Violett auf Grün wieder auf. Diese von fast manischer Wucht zeugende Serie war die letzte, bis wenige Jahre vor dem Tod anhaltende künstlerische Eruption Steins.
Die letzten drei Jahrzehnte brachten auch späte Würdigungen. Größere Einzelausstellungen hatte er, nachdem er bislang fast stets als Teil eines Duos oder größerer Künstlergruppen präsentiert worden war, im Herbst 1999 im Bahnhof Rolandseck in Remagen, im Sommer 2002 im Würzburger Spitäle an der Alten Mainbrücke und im Frühjahr 2008 im Martin von Wagner Museum in der Würzburger Residenz. So blieb Dieter Stein, der früh schon einen beachtlichen künstlerischen und geistigen Horizont erworben hatte, in den 1950er Jahren auf der Schwelle zu einer großen Karriere zu stehen schien, sich jedoch – wohl auch aus bewusster Entscheidung – entschloss, diesen Weg nicht zu gehen, sondern fortan unbehelligt vom hektischen Kunstbetrieb allein für seinem Schaffen zu leben, bis zum Schluss seiner Heimatstadt am Main eng verbunden.
Die Ausstellung „Dieter Stein – ‚die Augen auswaschen‘“ ist bis zum 2. Februar 2025 zu sehen. Das Museum im Kulturspeicher hat dienstags von 13 bis 18 Uhr, mittwochs bis sonntags von 11 bis 18 Uhr und donnerstags zusätzlich bis 19 Uhr geöffnet. Geschlossen bleibt an Heiligabend, 1. Weihnachtstag und Silvester. Der Eintritt beträgt 5,50 Euro, ermäßigt 3,50 Euro und ist für Kinder bis 6 Jahre frei. Der Ausstellungskatalog aus dem Kerber Verlag kostet im Museum 22 Euro. |