| | Lucian Freud, Ria. Naked Portrait, 2006/07 | |
Verträumt, abwesend, fast melancholisch blickt die blonde Frau mit den stechend blauen Augen aus dem Bild. Man erzählt sich, es habe mehr als 16 Monate und 2.400 Malstunden gedauert, bis der 83jährige Lucian Freud 2007 sein Bild „Ria, Naked Portrait“ vollendet hatte. Die tiefen Furchen und Gräben im pastosen Farbauftrag erzählen vom Kampf des Künstlers vor der Leinwand. Doch strahlt das Gemälde eine eigentümliche Stille und Entrücktheit aus. Eine Hand unter ihrem Kissen liegt Ria völlig nackt und bewegungslos auf einem schneeweißen Bett. Sichtlich unbeeindruckt nahm sie wohl auch keine Notiz davon, dass sie beim letzten „Evening Sale“ mit Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts von Christie’s in London zum Toplos avancierte. Bei 10 Millionen Pfund fand das Spätwerk Freuds einen neuen Besitzer, einen anonymen Telefonbieter. Damit ist zwar die große Sensation ausgeblieben, allerdings wurde die untere Schätzgrenze erreicht und der Ton für die restliche Auktion gesetzt. Denn insgesamt verlief der Verkauf glanzlos solide. Christie’s brachte es auf eine Hammerpreissumme von knapp 67 Millionen Pfund, mit Aufgeld auf knapp 82 Millionen Pfund – immerhin ein kräftiges Plus im Vergleich zu den 44,6 Millionen Pfund der Vorjahresauktion, die allerdings nur mit zeitgenössischer Kunst bestückt war. Die losbezogene Zuschlagsquote von 88,5 Prozent braucht sich in Zeiten eines kriselnden Kunstmarkts ebenfalls nicht zu verstecken.
Leichte Anlaufschwierigkeiten hatte Jeff Koons’ „Balloon Monkey (Blue)“ von 2006/13, der mit einer Taxe von 6,5 bis 10 Millionen Pfund an den Start ging und ebenfalls durch eine Garantie abgesichert war – wie häufiger in der Versteigerung. Am Ende standen 6,3 Millionen Pfund an der Tafel, als der Hammer fiel und das ikonische Kunstwerk das Parkett schon wieder verlassen musste. Da half es auch nicht, dass Koons’ monumentaler Affe im Vorfeld der Auktion öffentlichkeitswirksam auf dem Londoner St. James’s Square neben dem Hauptsitz von Christie’s zu sehen war. Immerhin bis an den unteren Schätzwert schaffte es David Hockneys Gemälde „More Woldgate Timber, October 13th 2009“. Die farbgewaltige Waldlandschaft in Grün, Rot, Violett und Blau, in deren Zentrum die menschliche Nutzbarmachung der Natur steht, brachte es auf 3,8 Millionen Pfund. Die anvisierten oberen 5,5 Millionen Pfund waren damit in genauso weite Ferne gerückt, wie eine ausbalancierte Koexistenz von Mensch und Natur im 21. Jahrhundert.
Verhaltene Rekorde
Rekorde wurden bei Christie’s dennoch gebrochen, allerdings nicht im Millionenbereich. Erst im letzten Jahr stellte die US-amerikanische Künstlerin Sarah Sze ihre damals gerade vollendete abstrakte Farbexplosion „Spell“ mit mehreren Handfragmenten für eine Benefizauktion zur Verfügung, nun kam die Öl- und Acrylmalerei, ergänzt mit Schnüren, Klebeband und Nägeln, bei Christie’s für 600.000 bis 900.000 Pfund schon wieder zum Aufruf. Zwar war auch hier bei 600.000 Pfund Schluss, jedoch ein Auktionsrekord für Sze erreicht. Das blieb zwar der Papierarbeit „Phare sur la digue“ des belgischen Symbolisten Léon Spilliaert verwehrt, als diese für 780.000 Pfund knapp hinter den Erwartungen zurückblieb, doch bedeutet der Erlös ebenfalls einen neuen Spitzenpreis für Spilliaert. Der Leuchtturm mit wehender Fahne von 1908 steht auf einem langgezogenen Deich, der mit seiner tiefschwarzen Wölbung beinahe bedrohlicher wirkt als der dunkle Nachthimmel (Taxe 800.000 bis 1,2 Millionen GBP). Deutlich über das Ziel hinaus schoss Annie Morris’ Skulptur „Stack 8, Viridian Green“ von 2021. Die bunten und gestapelten Schaumkugeln häuften am Ende derart viele Gebote an, dass ein Zuschlag von 240.000 Pfund herauskam, der die erwarteten 120.000 bis 180.000 Pfund spielend egalisierte.
Dass etablierte Namen auf dem Kunstmarkt nach wie vor solide Ergebnisse einfahren, belegt nicht nur Hockneys moderne Waldlandschaft. So kamen Richard Princes zerlaufene „Hurricane Nurse“ von 2004 für 3,425 Millionen Pfund (Taxe 3,5 bis 5,5 Millionen GBP) und Ed Ruschas hoffnungsvolle Arbeit „Start Over Please“ von 2015 für 2,6 Millionen Pfund an ihr Ziel (Taxe 2 bis 3 Millionen GBP). Deutlich schwerer hatte es Willem de Koonings helle Luftschlangenabstraktion „Untitled XVIII“ von 1986. Für das breite Geflecht aus roten Linien und bunten Farbflächen stoppten die Gebote schon bei 2,85 Millionen Pfund. Daran konnte eine Provenienz aus der Sammlung von Eric Clapton nichts rütteln (Taxe 4 bis 6 Millionen GBP).
Surrealisten im Aufwind
Vielleicht lag es am 100. Geburtstag des „Surrealistischen Manifests“, dass René Magritte bei Christie’s bemerkenswerte Erfolge feierte. Magrittes späte Gouache „Le grand style“ von 1952, die dessen Beschäftigung mit Fragen von Wahrnehmung, Illusion und Erwartung verpflichtet ist, verdoppelte die untere Schätzgrenze mit einem Zuschlag von 2,1 Millionen Pfund spielend. Die drei über dem Wasser schwebenden, perlenbesetzte Münder und Augenpaare in Magrittes „Shéhérazade“ von 1947 haben gleichfalls zu verzaubern gewusst, als sich die Papierarbeit in Höhen von 700.000 Pfund einpendelte (Taxe 400.000 bis 600.000 GBP). Noch höher hinaus ging es für Magrittes „L’invitée“ von 1956. Das Gemälde eines am Nachthimmel fliegenden und beleuchteten Fensters erzielte einen Hammerpreis von 800.000 Pfund (Taxe 800.000 bis 1,2 Millionen GBP).
Der „Buste d’homme à la pipe“, eine späte bunte Wachskreidezeichnung Pablo Picassos von 1969, war für 600.000 bis 800.000 Pfund ins Rennen gegangen und kletterte beständig auf 920.000 Pfund – eine beachtliche Leistung für das nachsurrealistische mehrperspektivische Porträt. In enger geistiger Verwandtschaft mit der Strömung des Surrealismus entstand Leonor Finis Ölgemälde „Rogomelec“ im Jahr 1978. Die in schimmernde Pfauenfedern gehüllte nächtliche Schimäre besticht durch ihre realistische Malweise und entspringt doch einer irrealen Fantasiewelt. Ebenso überraschend fiel der Erlös von 720.000 Pfund aus (Taxe 450.000 bis 650.000 GBP). Fantasievoll ist auch die Pflanzenwelt in Hernan Bas’ „The Primordial Soup Theory (Homosexual)“ von 2010 mit einem einsamen jungen Mann in einem Waldteich. Bei 320.000 Pfund pendelten sich die Gebote im Rahmen der Erwartungen von 250.000 bis 350.000 Pfund ein.
Klassische Moderne
Fest ist der Blick jener unbekannten Frau in Vincent van Goghs „Kop van een vrouw met witte muts“ von 1885, die sich beharrlich weigert, ihre tiefbraunen Augen vom Publikum abzuwenden. Auf dem Preisschild standen am Ende 1,5 Millionen Pfund (Taxe 1,2 bis 1,8 Millionen GBP). In ungeahnte Höhen kletterte Vilhelm Hammershøis zumindest dem Titel nach sommerliche Landschaft „Landskab. Sommer. Fra Ryet ved Farumsø“ von 1895, die in ihren braunen feinen Farben zwar etwas trist daherkommt, doch mit einem Zuschlag von 1 Million Pfund das Publikum zu gewinnen vermochte (Taxe 500.000 bis 700.000 GBP). Die auf ihr Kleid konzentrierte Protagonistin in Edgar Degas’ Pastell „Danseuse à mi-corps rajustant son épaulette“ von 1896/99 zog die Bieter in London ebenso in ihren Bann. Erst bei 800.000 Pfund fiel der Hammer, da war die Schätzung von 400.000 bis 600.000 Pfund längst überschritten.
Mit 2,1 Millionen Pfund blieb hingegen Le Corbusiers Gemälde „Deux figures au tronc d’arbre jaune“ von 1937 knapp hinter der unteren Schätzgrenze zurück. Den bunten schablonenartig arrangierten Figuren waren mindestens 100.000 Pfund mehr zugetraut worden. Während sich Gemälde von Vertretern der klassischen Moderne über regen Absatz freuen konnten, hatten es ihre Bildhauerkollegen deutlich schwerer. Auguste Rodins berühmte Bronze „Le Baiser“ fand keinen Abnehmer, der bereit war, bei dem auf 900.000 bis 1,2 Millionen Pfund taxierten Stück die Hand zu heben. Das gleiche Schicksal ereilte die auf Hochglanz polierte amorphe Bronzestele „Figure-germe dite l’après-midinette“ von Hans Arp aus dem Jahr 1962 (Taxe 400.000 bis 600.000 GBP).
Auf deutscher Seite standen mehr oder minder erfolgreich Gerhard Richters „Abstraktes Bild“ von 1994 mit rot-blau-grauen Farbüberlagerungen in Rakeltechnik bei 1,5 Millionen Pfund (Taxe 1,8 bis 2,5 Millionen GBP), Georg Baselitz’ zweigeteilte, bunt zersplitterte Männerfigur „Bitte hinter dem Kopf zurücktreten“ von 2014 bei 550.000 Pfund (Taxe 500.000 bis 700.000 GBP), Günther Ueckers 2019 flott genagelte Doppelspirale „Both“ bei 480.000 Pfund (Taxe 450.000 bis 650.000 GBP) und Neo Rauchs auf Papier gemalter, dennoch großformatiger, geheimnisvoller „Pflanztag“ aus dem Jahr 2015 bei 320.000 Pfund (Taxe 200.000 bis 300.000 GBP). Das Schaffen des Schweizers Franz Gertsch war von hyperrealistischen und großformatigen Porträts geprägt. Das einzige derartige Selbstbildnis von Gertsch aus dem Jahr 1980 verlangte nun den unteren Schätzpreis von 2,1 Millionen Pfund.
Mit Frauenanteil
Der italienische Konzeptkünstler Alighiero Boetti, einer der großen Vertreter der Arte Povera, ist unter anderem für seine Kartenbilder mit den Flaggen der jeweiligen Staaten bekannt. Eine solche auf Leinen gestickte „Mappa“ schwang sich bei Christie’s zu 1,9 Millionen Pfund auf (Taxe 1,5 bis 2,5 Millionen GBP). Zudem fiel der Erlös von Robert Rymans wolkiger Malerei „Series #29 (White)“ aus dem Jahr 2004 auf: Für die gestenreich weiß gestrichene Leinwand musste ein Käufer schließlich 1,3 Millionen Pfund berappen (Taxe 800.000 bis 1,2 Millionen GBP). Den Abend beschloss Damien Hirsts mit echten Schmetterlingen besetzte Leinwand „Assumption“ von 2012, die wie eine Glasmalerei wirkt. Die zu konzentrischen Kreisen arrangierten Tiere erinnern an Ornamente des Orients und schwangen sich bei Christie’s zu 750.000 Pfund auf (Taxe 450.000 bis 650.000 GBP).
Den „Impressionist and Modern Art Day Sale“ am 10. Oktober führte Karl Schmidt-Rottluff mit seiner farbprächtigen, frühen, fast noch pointillistischen „Alsener Landschaft“ aus dem Jahr 1906 bei 440.000 Pfund an (Taxe 400.000 bis 600.000 GBP). Dahinter folgten bei 360.000 Pfund Henri Fantin-Latours geschmackvolles Stillleben „Roses dans une boule de verre“ von 1885 (Taxe 200.000 bis 300.000 GBP) und bei 350.000 Pfund Edouard Vuillards Paravent für den Verleger Stéphane Natanson, auf dem in einem Interieur unter anderem die bekannte Muse Misia Sert dargestellt ist (Taxe 250.000 bis 550.000 GBP). Auch einige deutsche Künstlerinnen meldeten sich hier zu Wort, darunter Gabriele Münter mit dem Stillleben „Blumen und kleine Madonna“ bei 105.000 Pfund (Taxe 60.000 bis 90.000 GBP) und Paula Modersohn-Becker mit ihrer liebevollen Szene „Mutter und Kind“ um 1904, die zur unteren Schätzung von 250.000 Pfund an das Leopold Museum in Wien ging. Einträglich lief es für Hannah Höch und ihre freche Collage „Da-Dandy“ von 1919, die von 60.000 Pfund auf 220.000 Pfund schoss.
Die Ergebnisse verstehen sich als Zuschlag ohne das Aufgeld. |