 |  | Gero-Codex, Majestas Domini, Kloster Reichenau vor 969 | |
Das Benediktinerkloster auf der Bodenseeinsel Reichenau genoss allein wegen der hier im Skriptorium gefertigten Prachthandschriften im gesamten Abendland einen glänzenden Ruf. Schöpferisch in exzellenter Qualität gestaltet, berichten sie mit eingängigen Figurenzyklen vom Leben Christi. Als Auftragswerke für Kaiser, Könige und den hohen Klerus in großer Zahl zwischen 960 und 1030 entstanden, werden sie zu den bedeutendsten Leistungen der Buchmalerei überhaupt gezählt. Mindestens 70 dieser Kodizes haben sich erhalten und werden weltweit in Bibliotheken verwahrt. Zehn Hauptwerke wurden 2003 als „kulturgeschichtlich einzigartige Dokumente, die exemplarisch das kollektive Gedächtnis der Menschheit repräsentieren“, zum UNESCO-Weltdokumentenerbe erhoben. Fünf davon stehen nun im Nukleus der baden-württembergischen Landesausstellung anlässlich der Gründung des Klosters vor 1300 Jahren. Schon im Jahr 2000 wurde die „Klosterinsel Reichenau“ in die Liste der Welterbestätten der UNESCO aufgenommen. Dies und das Jubiläum gaben dem Badischen Landesmuseum den Anstoß, die kostbarsten Prachthandschriften aus dem Reichenauer Skriptorium erstmals gemeinsam zu zeigen.
Darunter ist der um 969 entstandene und heute in der Darmstädter Universitätsbibliothek verwahrte Gero-Kodex die älteste Handschrift, deren figürliche Darstellungen als stilprägend angesehen werden. Ganzseitige Abbildungen von Evangelisten, die von einer Arkade gerahmt sind, zieren die im Gottesdienst vorgetragenen Evangelien-Texte. Eine Reichenauer Neuschöpfung von weit ausstrahlender Wirkung waren ganzseitige Textblöcke vor purpurfarbenem Hintergrund, eingefasst von einem mächtigen geflochtenen Rahmen. Die enorme künstlerische Leistungsfähigkeit des Reichenauer Skriptoriums unterstreicht zudem das aus der Heidelberger Universitätsbibliothek entliehene, etwas später um 979/80 für das Benediktinerkloster Konstanz-Petershausen entstandene Sakramentar, das sich gestalterisch eng an den Gero-Kodex anlehnt, aber nicht zum UNESCO-Welterbe zählt. Hier findet sich auch das Titelmotiv der Schau, das Bild der Ecclesia, die Personifikation der christlichen Kirche. Einprägsam in einen diesmal runden Flechtrahmen gesetzt, trägt die Figur ein kaiserliches Gewand mit Goldschmiedeornat, das an antike Elfenbeindarstellungen erinnert. Eine ähnliche Struktur der Doppelseite mit Bild und Textblock vor purpurrotem Ziergrund zeigt auch das in die 970er Jahre datierte Hornberger Sakramentar, heute dem Solothurner Domschatz zugehörig. Stets begegnet man ganzseitig angelegten, ausdrucksvoll gelängten Figuren mit ekstatisch-suggestiver Gebärdensprache in einem flächigen, satt leuchtenden Kolorit. Hieratische Kompositionen mit reduzierten Formen, fehlender räumlicher Tiefe und leeren Flächen sowie starre Blicke und Gesten mit verlängerten Fingern bewirken eine feierliche Monumentalität und Ausdrucksstärke, von der sich später die Expressionisten inspirieren ließen.
Dass es möglich war, diese und weitere Handschriften für die Schau im Archäologischen Landesmuseum in Konstanz zusammenzuführen, kann allein schon aufgrund hoher konservatorischer Herausforderungen als singuläres Ereignis betrachtet werden. In einem Kapitel über deren Produktion wird dies deutlich. In einem aufwendigen Verfahren musste zunächst einmal das Pergament aus Kalbs-, Ziegen- oder Schafhäuten gewonnen werden, da Papier in Europa erst im 13. Jahrhundert eingeführt wurde. Ein Team aus Spezialisten bewerkstelligte dann das Schreiben, Zeichnen, Ausmalen und Binden. Dies visualisieren in der Schau zwei kleine Elfenbeintäfelchen aus dem 11. Jahrhundert, die die Evangelisten Johanes und Markus bei der Schreibarbeit zeigen. Trotz Gefahren durch Abplatzungen von Farbe und Tinte bei Klimaschwankungen hat sich das Pergament als stabiler Datenträger erwiesen. Schon im Mittelalter wurde die Mobilität von Büchern erkannt und zur Wissens- und Informationsvermittlung genutzt. Insofern war auch die Insel kein abgeschlossener Ort, sondern eine wichtige Drehscheibe in einem weit vernetzten Kommunikations- und Wissensraum. Dies und die Geschichte des Klosters vermitteln rund 250 erlesene Exponate, darunter Gemälde, Skulpturen, Urkunden, eine Fülle von Handschriften, liturgische Geräte, Elfenbeintafeln, Reliquiare, Glasmalereien, Alltagsgegenstände oder Architekturteile, die der Kurator Olaf Siart in 20 Abschnitte gegliedert hat.
Die Region des fränkischen Alemannien und das um 600 gegründete Bistum Konstanz waren Ziel von Wandermönchen, um den christlichen Glauben zu vertiefen und mit fürstlicher Unterstützung Klöster zu gründen. Dem Wanderbischof Pirmin wird die legendenumrankte Gründung des Reichenauer Klosters auf Befehl des seinerzeit höchsten fränkischen Verwaltungsbeamten Karl Martell im Jahr 724 zugeschrieben. In Etappen wurde die bestehende Ansiedlung den klösterlichen Bedürfnissen angepasst. Bis zu 25 Kirchen und Kapellen entstanden auf dem vier Quadratkilometer großen, damals noch als „Sindleozesauua“ bezeichneten Eiland. Erstes zentrales Exponat stellt die vermeintliche Gründungsurkunde dar, eine Fälschung oder „Neufassung“ aus dem 12. Jahrhundert mit gestauchten und eng beschriebenen Textbausteinen aus anderen Urkunden. Aufgrund der Wahrung von Rechtsansprüchen und dem Verlust des Originals war die „plausible Fälschung“ vonnöten, deren Inhalt sich aber mit vielen anderen historischen Gegebenheiten deckt.
Zu den Highlights unter den Ausstellungsstücken zählt die in der Stiftsbibliothek St. Gallen verwahrte älteste erhaltene Handschrift der Mönchsregel des heiligen Benedikt von Nursia aus dem frühen 9. Jahrhundert. Zahlreiche Artefakte akzentuieren Aspekte aus dem klösterlichen Leben, der Bauten und ihrer Ausstattung. Aus dem Jahr 800 stammt eine mit Korbbogenmotiven und Flechtbanddekor versehene Reliefplatte einer Altarschranke aus der Kirche St. Peter und Paul in Niederzell, für die der Bauherr Bischof Egino von Verona vermutlich italienische Handwerker engagierte, wie zum Verwechseln ähnlich gestaltete Beispiele aus Oberitalien belegen. Aus dieser Kirche stammt auch ein romanischer Fensterrahmen sowie ein unscheinbares kleines, aber dennoch aussagekräftiges Glasfragment, das sich als bedeutend für die Kunstproduktion auf der Insel erweist. Das sechs mal vier Zentimeter kleine Bruchstück zeigt einen Teil eines Gesichtes mit rechtem Auge, kräftig geschwungenen Braunen, Stirn, Locken und seitlichen Haarsträhnen. Mittels neuester kunsttechnologischer und chemischer Untersuchungsmethoden konnte es in die Zeit um 1147/48 datiert werden, als die Kirche durch einen Neubau in der heute noch bestehenden Gestalt ersetzt wurde. Es stellt einen Beleg für die Existenz mittelalterlicher Glasmalerei auf der Insel dar. Auch ein Brief von 839 verweist darauf, dass neben der Buchmalerei auch die Kunst farbiger Fensterverglasung hier schon früh in Blüte stand. Die Wandmalereien in der Apsis der Kirche sind ein weiterer Beweis für die facettenreiche Kunstproduktion. Zahlreiche Löcher darin deuten auf einst vorhandene Applikationen aus Metall oder Glassteinen hin, deren Glanz und Lichteffekte die Kostbarkeit der Malereien steigern sollten.
Unter den Reichenauer Mönchen und Äbten taten sich einige als talentierte Schriftsteller und Dichter hervor, allen voran Walahfrid Strabo, der später an den Aachener Kaiserhof als Hofdichter berufen wurde und ein berühmtes Buch über den Gartenbau und das Gedicht „Hortulus“ verfasste. Mit Hermann dem Lahmen wirkte einer der herausragenden Wissenschaftler und Gelehrten der Zeit auf der Insel. Wie stark die Reichenau im elften Jahrhundert zur Wissenshochburg aufstieg, spiegelt nichts besser als eine in der Klosterbibliothek vorhandene Sammelhandschrift jener Zeit. Der ursprünglich aus dem Bamberger Kloster Michaelsberg stammende Kodex enthält Abhandlungen zu verschiedenen Disziplinen, darunter Mathematik, Musik oder Astrologie. Ein separates Kapitel stellt den berühmten St. Gallener Klosterplan vor, konzipiert um 830 als Idealanlage eines neuen Klosters. Es handelt sich dabei um die wohl älteste erhaltene Architekturzeichnung. Den Einfluss und die Beziehungen der Reichenau bis hinein in höchste Machtstrukturen belegt eine eher unscheinbare Quelle, das Reichenauer „Verbrüderungsbuch“. Es enthält 38.000 Namen von Mönchen, Nonnen, Adeligen und Pilgern, für die im Kloster gebetet wurde. Im Rahmen von Gebetsnetzwerken wurden solche Namenslisten weitergereicht und dokumentieren Austausch und Verbundenheit zu Klöstern und Herrscherhäusern bis hinauf zu Kaiser Karl dem Großen. Die Beauftragung von Äbten mit kaiserlichen Diensten, etwa die Gesandtschaft des Abtes Haito nach Byzanz im Jahr 811, unterstreicht dies eindrucksvoll.
Im Jahr 1508 bestand der Konvent nur noch aus zwei Mönchen, und 1540 wurde das Kloster dem Konstanzer Bischof als weiter bestehendes Priorat untergeordnet. Schon ins Jahr 1757 datiert die Auflösung des Klosters; um 1803 verließen im Zuge der Säkularisation die letzten Mönche die Insel. Der Rest der Bibliothek aus 641 Handschriften gelangte in die Badische Landesbibliothek, die Archivalien in das Generallandesarchiv nach Karlsruhe. Beide Institutionen und auch das Haupthaus des Landesmuseum im Karlsruher Residenzschloss veranstalten ergänzende Korrespondenzausstellungen.
Eng verknüpft ist die Landesausstellung in Konstanz mit dem lediglich fünf Kilometer entfernt liegenden authentischen Ort. In einer unvergleichlichen Kulturlandschaft zwischen Gemüse- und Blumenfeldern laden die drei erhaltenen romanischen Kirchen auf der Reichenau zum Besuch ein. Empfangen wird man von der St. Georgskirche in Oberzell mit den grandiosen Wandmalereien aus dem zehnten Jahrhundert, die Szenen aus dem Leben Christi zeigen und stilistisch der Buchmalerei nahestehen. In Mittelzell führt eine neu gestaltete multimediale Präsentation mit analogen und digitalen Tools in die Entstehungszeit und das klösterliche Leben ein. Keinesfalls versäumen sollte man den Besuch des neu arrangierten Münsterschatzes der Kirche St. Maria und Markus. Unter einem gotischen Sternengewölbe breiten sich in selten erlebter Dichte Gefäße, Schriften und Kultgegenstände vom sechsten bis zum 19. Jahrhundert aus, darunter der vergoldete Schrein mit den Reliquien des Evangelisten Markus. Eine Oase der Stille stellen die angrenzenden Klostergärten dar. Basierend auf historischen Quellen wurden der Kreuzgang, die Kräutergärten sowie der Mönchsfriedhof mit Obstgarten gartenkünstlerisch zeitgemäß interpretiert.
Nach dem ab 1835 in Etappen auf der Spur der ehemaligen Furt der Bau des Verbindungsdamms zum Festland erfolgte, blühte die Insel als touristische Destination auf. Die Reichenau ist heute ein lebendiger, eng mit den Traditionen verhafteter Ort. Dreimal jährlich führen Prozessionen über die Insel. Seit dem Jahr 2001 leben wieder drei Benediktinerpatres auf der Reichenau.
Die Ausstellung „Welterbe des Mittelalters. 1300 Jahre Klosterinsel Reichenau“, die vom Badischen Landesmuseum Karlsruhe im Archäologischen Landesmuseum in Konstanz veranstaltet wird, ist bis zum 20. Oktober zu besichtigen. Sie hat täglich außer montags von 10 bis 18 Uhr geöffnet. Der Eintritt beträgt 14 Euro, ermäßigt 11 Euro, für Familien 33 Euro, für Kinder zwischen 6 und 17 Jahren 6 Euro. Zur Ausstellung ist ein opulenter Begleitband erschienen, der im Museum 36 Euro kostet, ferner ein Tagungsband zu 44 Euro, beide im Schuber zu 80 Euro. Bezüglich des nachklösterlichen Lebens auf der Reichenau ab 1757 ist das Buch von Gert Zang zu empfehlen: „Leben auf der Reichenau. Von der Klostergeschichte zur Bürgergeschichte 1757-1955“, Mattes Verlag Heidelberg 2024, Preis 38 Euro.
Archäologisches Landesmuseum Baden-Württemberg
Benediktinerplatz 5
D-76131 Konstanz-Petershausen
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