Galeristen agieren als Trendsetter. Innerhalb ihres Netzwerkes suchen sie stets das erfolgversprechende, progressive Neue. Im Berlin der Moderne stand augenblicklich Ungarn im Fokus. Bereits Anfang 1909 besuchte Paul Cassirer Budapester Sammlungen und Künstler, um in seiner Eigenschaft als Geschäftsführer der Berliner Secession Maler zu einer Ausstellung in deren Räume einzuladen. Schon im Frühjahr 1910 konnte er dort 197 Werke ungarischer Maler der Gruppe „Die Acht“ präsentieren. Wie beseelt diese von den französischen farbgewaltigen Tendenzen der Fauves und der Spätimpressionisten waren, gibt derzeit eine einleitende Auswahl in der Schau „Magyar Modern. Ungarische Kunst in Berlin 1910-1933“ der Berlinischen Galerie zu erkennen. Welche Auswirkungen Cassirers Gespür für die Kunst und den Kunstmarkt entfaltete, wird in den acht nachfolgenden Abschnitten deutlich.
Im Dienst politischer Propaganda stehende Plakatgrafik verweist danach auf das enge Ineinandergreifen von Politik und Kunst. Dezimiert um zwei Drittel seines Territoriums, wurde Ungarn nach dem Ende des Ersten Weltkriegs ein eigener Staat und 1919 kurzzeitig eine kommunistische Räterepublik. Deren Akteure maßen den Künsten besonderen Stellenwert zu, was den meist ideologisch links angesiedelten, progressiven und jüdischstämmigen Künstlern gefiel. Den öffentlichen Raum nahmen sie mit Plakaten in Beschlag. Auf riesigen Formaten versuchten sie, mit Fahnenträgern oder muskulösen Männern Mobilität zu erzeugen. In Auflagen bis zu 15.000 Stück gedruckt, gehören die in nur 133 Tagen während des Bestehens der Räterepublik produzierten, insgesamt rund 350.000 Plakate qualitativ zu den vortrefflichsten Leistungen dieses Genres. Zu eng platziert und mit allzu spiegelnden Scheiben verglast, können sie in der Berlinischen Galerie leider nicht ihr Potenzial entfalten.
Nachdem im August 1919 eine autoritäre nationalkonservative Regierung die Macht übernommen hatte, blieb den ideologisch fernstehenden Künstlern nur die Emigration, befördert durch antisemitische Stimmungen und eine einsetzende politische Verfolgung. Über die Zwischenstation in Wien gelangten etliche in das aufstrebende quirlige Berlin, das ihnen eine vielversprechende Plattform für die Präsentation und den Vertrieb ihrer Kunst bot. Am Beispiel von rund 200 Gemälden, Skulpturen, Grafiken, Entwürfen und Fotografien von 48 hierzulande weniger bekannten, dafür in Ungarn umso mehr geschätzten Künstlerinnen und Künstlern führt die Ausstellung vor Augen, wie Märkte unter beiderseitigem Profit von Künstlern und Händlern erschlossen wurden.
Die Galerie „Der Sturm“ des umtriebigen, die Innovationskraft erkennenden Herwarth Walden bot vielen Ungarn in den wirtschaftlich instabilen 1920er Jahren die Option eines nachhaltig wirkenden Auftritts. Von 1921 bis 1930 sind hier mindestens 23 Ausstellungen ungarischer Künstler belegt, darunter die viel beachtete Vorstellung von László Moholy-Nagy im Februar 1922 zusammen mit László Péri, die sich als berufliches Sprungbrett erwies. Mithilfe ungarischer Künstler verschaffte Walden der konstruktivistischen Kunst mit ihren bis dato ungewohnten, auf die elementare Geometrie reduzierten Formen den ersten nachhaltigen Auftritt in Berlin. Expressionistische Tendenzen verloren nach einer Schau von Aurél Bernáth im Jahr 1923 an Interesse. In seiner Zeitschrift „Der Sturm“ berichtete Walden in mehr als 30 Ausgaben über ungarische Künstler und publizierte auf 18 Titelblättern deren Werke. Lajos Kassák, ein führender Akteur der ungarischen Avantgarde, übernahm das Geschäftsmodell mit der Gründung der in der Aufmachung daran angelehnten Zeitschrift „Ma“, zu Deutsch „heute“.
Untermauert durch Dokumente erschließt die Ausstellung eine Entwicklung, die der Gesetzgeber erleichterte: Seit dem 30. Juli 1920 belegte ein neues Luxussteuergesetz Galerieverkäufe deutscher Produzenten mit 15 Prozent, was bis zur endgültigen Abschaffung der Reglung 1926 den Verkauf von Werken ausländischer Künstler begünstigte. Umgehend wandte sich der Handel den Ungarn zu. Fritz Gurlitt gehörte zu den ersten; bereits 1920 präsentierte er Zeichnungen des seit April dieses Jahres in Deutschland lebenden László Moholy-Nagy. 1926 stellte er József Egry vor. Auch der Kunstsalon Cassirer begann bereits 1920 mit einer Ausstellung von Werken Béla Czóbels. Lajos Tihanyis erste Schau in Berlin war 1921 in der Galerie Ferdinand Möller zu sehen.
Aus der Gruppe kommunistisch engagierter Kunstschaffender zeigte um 1928/29 zeigte die Galerie Wiltschek Arbeiten der Bildwirkerin Noémi Ferenczy. 1931 widmete sich die Galerie Hartberg noch einmal Aurél Bernáth. Im März 1924 bespielte Sándor Bortnyik das grafische Kabinett von I. B. Neumann mit seinen konstruktiv-figurativen Bildwelten. Viele andere, die mit ungarischer Kunst handelten, sind heute nahezu vergessen, so etwa Goldschmidt & Wallerstein, Alfred Heller, Victor Hartberg oder Lengyel & Brenner. Ab 1925 trat in Ungarn eine Beruhigung der Lage ein, die viele Migranten zur Rückkehr in die Heimat veranlasste. Zeitgleich breitete sich der kühle, fotografische Stil der Neuen Sachlichkeit aus, dessen Sujets das moderne Großstadtleben aufgriffen.
Ein eigenes Kapitel widmet die Berliner Schau der Architektur. Der aus Ungarn stammende Baumeister Oskar Kaufmann stieg trotz seiner Distanz zur Neuen Sachlichkeit und Ausflügen in ein „expressionistisches Rokoko“ zum begehrtesten Theaterarchitekten Berlins auf: Er entwarf das Hebbel-Theater, die Volksbühne oder die Kroll-Oper. Mitte 1928 zog der am Bauhaus ausgebildete Designer Marcel Breuer nach Berlin und realisierte einige Interieurs. Fred Forbát trat durch das neue Mommsenstadion und zweckmäßig schlichte Wohnzeilen mit funktional zugeschnittenen Grundrissen hervor.
Den Abschluss bildet die Fotografie. Mitten in der Blütezeit der sachlichen Pressefotografie sahen sich migrierte ungarische Fotografinnen und Fotografen wie Eva Besnyö, Lucia Moholy oder Brassaï durch das sich stetig wechselnde Antlitz Berlins Ende der 1920er Jahre zum „Neuen Sehen“ stimuliert. Ungewohnte Blickwinkel, hohe Kontraste, Positiv-Negativ-Umkehrungen, Spiegelungen oder Mehrfachbelichtungen legten abstrakte Strukturen zu Zeiten rasanter Umwälzungen offen. László Moholy-Nagys stark abstrakte Aufnahmen vom Berliner Funkturm sind dafür ebenso ein herausragendes Beispiel wie György Kepes’ mehrfach belichtete nächtliche Straßenszene am Bahnhof Zoo mit ihren überpappenden Leuchtschriften, die dem Motiv einen filmischen Charakter verleihen. Die Auswahl der Exponate schließt mit einem 1926 gemalten Ölbild von József Bató. Es zeigt den Bahnhof Friedrichstraße über der aufblitzenden Spree unter bedrohlich dunkel herbeiziehenden Wolken. Ein neuer Zeitabschnitt deutet sich an. Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 kehrten viele Künstler in ihre ungarische Heimat zurück oder setzten wie Moholy-Nagy ihre Karriere in den USA fort. Damit endete auch dieses wichtige Kapitel deutscher Kunstmarktgeschichte.
Die Ausstellung „Magyar Modern. Ungarische Kunst in Berlin 1910-1933“ ist bis zum 6. Februar zu sehen. Die Berlinische Galerie hat täglich außer dienstags von 10 bis 18 Uhr geöffnet. Der Eintritt beträgt 12 Euro, ermäßigt 8 Euro. Der Ausstellungskatalog aus dem Hirmer Verlag kostet an der Museumskasse 34,80 Euro, im Buchhandel 49,90 Euro. |