 |  | Antoni Gaudí, Jardinière et support, um 1883/88 | |
Am 8. Dezember 2021 bevölkerten tausende Menschen die Straßen rund um die Kathedrale Sagrada Familia in Barcelona. Dabei ging es mitnichten um den aufblühenden Separatismus. Anlass war die Segnung des nunmehr fertigen zwölfzackigen Leuchtsterns auf dem neuen zweithöchsten Turm der monumentalen Kirche, des Hauptwerks des Architekten Antoni Gaudí. Der 1,5 Millionen Euro teure, aus Stahl und Glas gefertigte „Stern von Bethlehem“ fängt in 138 Meter Höhe tagsüber das Sonnenlicht ein und reflektiert es. Abends erleuchten Scheinwerfer den kolossalen Turm der Jungfrau Maria von innen, was die Skyline der Stadt nun nachhaltig prägt. Kardinal Omella meinte ernsthaft, dass Gaudí die Zeremonie „mit Sicherheit vom Himmel aus tief bewegt“ verfolge.
Gaudí, Sohn eines Kupferschmieds, erblickte am 25. Juni 1852 in Reus, Kataloniens zweitgrößter Stadt, das Licht der Welt. Nach der Gymnasialzeit auf einer Klosterschule und Studium an der Architekturschule in Barcelona bemerkte dessen Direktor angeblich bei der Übergabe des Abschlusszeugnisses im Jahr 1878 an Gaudí: „Er ist entweder ein Genie oder ein Verrückter.“ Doch dessen extrem aus dem Rahmen fallende Entwürfe faszinieren bis heute die Massen und beruhten wie so häufig auf persönlichen Kontakten und einem Mix aus speziellen politischen, sozialen und künstlerischen Gegebenheiten der Zeit. Der Genius Gaudí war nicht vom Himmel gefallen. Am Beispiel prägnanter Werke mit dem Hauptgewicht auf Einrichtungsgegenständen und Baudekors sowie in der Analyse des Reifens seiner künstlerischen Vorstellungen bietet das Pariser Musée d’Orsay derzeit einen Überblick über Gaudís Schaffen.
Zu Beginn der Ausstellung sieht man sich der virtuos gestalteten Holzverkleidung aus dem Vestibül der Casa Milà gegenüber. Eine großzügig gebauchte Glastür mit organisch geschnitzten Füllungen, Fensterrahmen zwischen kannelurenartig verkleideten Säulen und ein Einbauschrank mit Sitznische fügen sich trotz aller Asymmetrie in die Maße des Raumes ein, dessen rationale Konstruktion Antoni Gaudí exzentrisch überspielt hat. Mit lässiger Ästhetik, Materialgerechtigkeit und handwerklicher Qualität bringt das Exponat wesentliche Merkmale von Gaudís Schaffen auf den Punkt. Analoge Interieurs führen in den Mikrokosmos seines Ateliers, das während des Spanischen Bürgerkriegs 1936 ausbrannte und in einer 3D-Projektion vorgestellt wird. Gerettete maßstabsgetreue Modelle lassen die präzise Durchgestaltung und statische Kalkulation der als Gesamtkunstwerke geplanten Projekte erahnen.
Gaudí nutzte häufig die Fotografie bei der Entwicklung von Ornamenten und Strukturen. Mit einem Modell, das über ein dreiteiliges Spiegelsystem eine Fünfansichtigkeit generierte, verhalf er sich zu Klarheit über Radien und Bewegungen. Schriften aus seiner Bibliothek legen weitere Inspirationsquellen offen, so etwa Eugène Viollet-le-Ducs Theorien für rationale Bauweisen, John Ruskins Gedanken zu Handwerk und Industrie oder Traktate zur arabischen oder ägyptischen Kunst. Davon sind frühe, teils schon während seiner Studienzeit entstandene aquarellierte Entwürfe gespeist, etwa für Anker- oder Anlegeplätze oder opulente Brunnenanlagen. Erst viel später, auf der 1910 in Paris ausgerichteten Schau der Société Nationale de Beaux-Arts, konnte Gaudí als etablierter Künstler seine großen Projekte im Ausland präsentieren. Fotografien, Zeichnungen und Modelle von Wohnbauten und der Sagrada Familia hatten Kritiken zwischen Rätselhaftigkeit und Bewunderung zur Folge.
Antoni Gaudí favorisierte neue Formen, wie den Parabelbogen, und distanzierte sich klar von akademischen Dogmen. Er gehörte zur Gruppe derer, die einen katalanischen Modernismus etablieren wollten. Die seinerzeit boomende und vermögende Industriestadt Barcelona bot mit ihren aufwendigen Stadterneuerungsplänen, die ein Raster aus breiten Alleen und neuen Wohnvierteln vorsahen, Mittel und Möglichkeiten, mittelalterliche Strukturen in die Moderne zu überführen und dem Nationalstaat eine eigene katalanische Identität entgegenzustellen. Auf der Pariser Weltausstellung 1878 konnte Gaudí Entwürfe für eine Genossenschaftssiedlung zeigen. Diese faszinierten den Unternehmer Eusebi Güell, eine hoch gebildete Persönlichkeit der katalanischen Kultur. Aus der engen Kooperation dieser ungleichen, aber fest an Katalonien als Zentrum des Mittelmeeres glaubenden und im Katholizismus verorteten Personen gingen zahlreiche Projekte hervor, die in die zweite Hälfte des Rundganges einleiten.
Zusammen mit Güell gestaltete Gaudí ab 1886 dessen Stadthaus. Im Kern völlig rational, aber im Sinne der italienischen Renaissance überreich mit vergoldeten Wänden und vielen symbolischen Anspielungen dekoriert, spiegeln spektakulär gestaltete Möbel die dortige Atmosphäre. Armsessel, Liegen oder Raumteiler quirlen vor Rollen und Kurven, die teils mit geprägtem und lackiertem Leder bezogen sind und sich auf das Rokoko des 18. Jahrhunderts beziehen. Für Güells Ehefrau schuf Gaudí eines seiner ungewöhnlichsten Möbelstücke: Einen asymmetrischen, nur aus geschwungenen Flächen bestehenden Schminktisch mit fünf an Tierbeine erinnernden Stützen. Mit dem den berühmten Park Güell transformierte Gaudí einen trockenen Berghang mit einem bizarren Arrangement aus Arkaden mit schrägen Säulen, parabolischen Bögen aus grob behauenem Stein und Aussichtspunkten samt Wasserspiel mit Salamanderbrunnen in eine Art romantisch tempelartiges Gleichnis Kataloniens.
Schon zuvor hatte Gaudí bis 1888 für den Börsenmakler Manuel Vicens i Montaner die von Technik durchsetzte, aber in kurioser Interpretation arabischer Dekore verkleidete Casa Vicens realisiert, deren eisernes Gittertor den Weg nach Paris gefunden hat. Gaudí benutzte den Gipsabdruck eines Palmenblattes zur Anfertigung einer Gussform. Über und über mit filigranen, schneidigen Palmblättern übersät, unterstreichen Tor und Zaun eine wehrhafte Abschottung des Hauses. Äußerlich eher konventionell gestaltete der Künstler die Casa Calvet. Doch hinter der Fassade mit dem flämisch inspirierten Giebeln stehen reich geschnitzte, gekurvte Bänke mit gelochten Sitzflächen sowie ein Sofa mit derart von der Lehne abgesetzter wie gekurvter Sitzfläche, dass schon allein die Form davon abhält, einmal auszuprobieren, ob das Sitzen ohne abzurutschen möglich ist. Planungen zur 1910 vollendeten Casa Milà, einem steinbruchartig gestalteten Mehrfamilienhaus aus bewegt gewellten Waben, leiten zu sakralen Bauvorhaben über.
Nach kleineren Aufträgen für Restaurierungen an Gebäuden, wie der Kathedrale in Palma auf Mallorca, konnte Antoni Gaudí von der projektierten Kirche der Colònia Güell in Santa Coloma de Cervelló bis 1914 lediglich die Krypta vollenden. Hinsichtlich von Farbwirkungen, Materialeinsatz und Konstruktion gilt sie als Probelauf für die Sagrada Familia, für die Gaudí fortan ausschließlich arbeitete, bis er im Juni 1926 den Verletzungen eines Straßenbahnunfalls erlag. Bis heute ist der „Sühnetempel der Heiligen Familie“ in Bau, und man hofft, die 18 Türme umfassende Stadtkrone in den nächsten zehn Jahren vollenden zu können. Restaurierte Modelle aus Gaudís Atelier und Interieurs können aber nur ansatzweise einen Eindruck von dem Wunderwerk aus Stein, Licht und Farben vermitteln. Das Projekt vereint sämtliche surrealen Form- und Materialvorstellungen, Vielfalt und Neuartigkeit von Konfigurationen sowie religiös-heimatbewusste Elemente Gaudís.
Im letzten Exponat der Schau im Musée d’Orsay bringt Antoni Tàpies all dies in einem frühen Triptychon von 1948 auf den Punkt. Ironisch kommentiert der Maler den Geist Gaudís, indem er ihn links als Säulenheiligen auf einem ionischen Kapitell des Güell-Parks platzierte, mittig in den zum Grabhügel umfunktionierten barcelonischen Hausberg des Montjuïc versetzte und rechts als Heiligen in reich dekorierter Manier einer römischen Christusfigur posieren ließ. Treffender könnte man Gaudís vielgestaltige und oft gegensätzliche Ideen wohl kaum charakterisieren.
Die Ausstellung „Gaudí“ ist bis zum 17. Juli zu sehen. Das Musée d’Orsay hat täglich außer montags von 9:30 bis 18 Uhr, donnerstags bis 21:45 Uhr geöffnet. Der Eintritt beträgt 16 Euro, ermäßigt 13 Euro. Der umfangreiche Ausstellungskatalog in französischer Sprache kostet im Museum 49 Euro. Paris ist am günstigsten mit dem Thalys von Köln aus in dreieinhalb Stunden oder auch von Frankfurt aus zu erreichen. |