| | Françoise Gilot wird 100 | |
„Die Malerei ist für mich ein Weg, das große Unbekannte zu erforschen, für mich selbst neue Rhythmen, Farben und Formen zu finden“, charakterisierte Françoise Gilot ihre Einstellung zur Kunst. Die französische Malerin, Zeichnerin und Grafikerin feiert an diesem 26. November ihren hundertsten Geburtstag. Dies hindert die ehemalige Picasso-Geliebte jedoch nicht daran, sich immer noch im Morgengrauen vor die Leinwand zu stellen. Im Nachthemd sei sie weniger kritisch. Zum Malen brauche man Leidenschaft, man müsse in Schwung kommen und den Vogel Zweifel von der Schulter scheuchen, so lautet das Erfolgsrezept Gilots, die heute auf ein bewegtes Leben und ein rund 85jähriges künstlerisches Schaffen zurückblicken kann.
Françoise Gilot wurde am 26. November 1921 in Neuilly-sur-Seine geboren. Ihre Mutter unterwies sie schon als Kind im Zeichnen, mit 13 Jahren besuchte sie einen wöchentlichen Kurs. Indem ihre Mutter sie nur mit Tinte und Wasserfarben malen ließ, lernte Gilot Fehler nicht zu korrigieren, sondern die Komposition daran anzupassen. Ein Kunstwerk ist nichts Gegebenes, sondern etwas Organisches, dessen Konzept sich mit jeder neuen Linie ändern kann. Diese Philosophie prägt Gilots Schaffen, in dem sie mehr als 5.000 Arbeiten auf Papier, darunter Zeichnungen, Linolschnitte, Stiche, Aquatinten, Lithografien und Monotypien, sowie circa 1.600 Gemälde vollendete. 1939 entstand ihr erstes Ölgemälde „French Window in Blue“, das den Blick des Betrachters durch die geöffnete blaue Balkontür auf hügelige Felder und Wiesen lenkt. Im selben Jahr traf Gilot in Paris den ungarischen Maler Endre Rozsda, bei dem sie parallel zu ihrem Jurastudium heimlich Mal- und Zeichenunterricht nahm. 1942 brach sie ihr vorheriges Studium ab und schrieb sich an der Académie Ranson in Paris ein. Damit endete auch der Kontakt zu ihrer Familie, die junge Künstlerin bestritt ihren Lebensunterhalt fortan mit Reitunterricht im Bois de Boulogne.
Françoise Gilot entwickelte schon früh ihren Stil, der Einflüsse des Abstrakten Expressionismus und des französischen Informel mit figurativen Tendenzen verband. Ihre Arbeiten sind geprägt von der Liebe zur Natur, zu Tieren, dem Kosmos und der Mythologie, die sie vor allem durch kräftige Farben und dynamische Formen zum Ausdruck bringt. Im Mai 1943 stellte Gilot erstmals Gemälde und Zeichnungen in einer Pariser Galerie aus, zu diesem Zeitpunkt lernte sie auch Pablo Picasso kennen, mit dem sie ein Jahr darauf eine Beziehung begann. Für Gilot gab Picasso seine Liaison zu Dora Maar auf. Währenddessen setzte sie ihr künstlerisches Studium in Paris an der Académie Julian und der École des Beaux Arts bei Jean Souverbie fort. 1945 war sie bei der Ausstellung der Gruppe Réalités Nouvelles in Paris vertreten.
Das „Orangefarbene Selbstporträt mit blauer Kette“ aus dieser Zeit zeigt, dass sich Gilot von Anfang an einer abstrakten Formensprache bediente. Ihre gute Beobachtungsgabe ermöglichte es der Künstlerin, die Motive auf das Wesentliche zu reduzieren und gleichzeitig die Wiedererkennbarkeit zu gewährleisten. Die im Schoß zusammengeführten Ellbogen lassen den orangefarbenen Pullover als Keil inmitten der in Beige, Braun und Schwarz gehaltenen Zimmereinrichtung erscheinen. Die Perlen der Halskette scheinen als blaue Farbtupfer vor der Leinwand zu schweben, während die kantige Silhouette der sitzenden jungen Frau durch das türkisfarbene Rechteck des Fensters im Hintergrund definiert wird. Den ausdruckstarken Gemälden stehen zarte Bleistiftzeichnungen wie das träumerische Antlitz einer jungen Frau mit dem Titel „Introspection“ von 1945 gegenüber. Die Lider beinahe geschlossen, der Mund zu einem leichten Lächeln geformt, das zusammengebundene Haar von einer leichten Brise verweht, scheint die Protagonistin in ihrer eigenen Welt versunken.
Im Mai 1946 zog Françoise Gilot zu Picasso an die Côte d’Azur und begegnete dort auch dessen Freund Henri Matisse. Picasso porträtierte seine Geliebte zum ersten Mal in dem berühmten Gemälde „Femme fleur“, in dem er ihre Anatomie in die einer Blume verwandelte. Die Künstlerin verkaufte das Werk später, um ihr Atelier in New York zu finanzieren. „Ich kannte es in- und auswendig. Warum sollte ich es da noch täglich vor mir haben“, so Gilots Antwort auf die Frage, wieso sie sich davon getrennt habe. In den folgenden drei Jahren ruhte ihre Maltätigkeit und sie beschränkte sich auf grafische Arbeiten. 1947 wurde zunächst der gemeinsame Sohn Claude, zwei Jahre später die Tochter Paloma geboren. Außerdem schloss die Künstlerin einen Vertrag mit dem Galeristen Daniel-Henry Kahnweiler ab. Als erste Frau verlegte Gilot 1950 bei Fernand Mourlot in Paris ihre Lithografien und präsentierte 1952 eine erste Einzelausstellung in Kahnweilers Galerie Louise Leiris. Ein Jahr darauf verließ Picassos Muse den großen Meister und zog mit ihren beiden Kindern nach Paris – ein in Picassos Leben ungewohnter und emanzipatorischer Art, der ja sonst seine immer Lebensgefährtinnen ad acta legte. Im Nachhinein sagte Gilot über ihre Beziehung zu Pablo Picasso: „Ich wusste, es würde eine Katastrophe werden, aber eine Katastrophe, die zu leben sich lohnen würde. Außerdem ist es viel interessanter, mit einem besonderen Menschen etwas Tragisches zu erleben, als ein wunderbares Leben mit einer mittelmäßigen Person zu führen.“
Das Leben ohne Picasso
Nach der Trennung von Picasso kehrte die Künstlerin wieder zu dem naturalistischen Stil ihres Frühwerks zurück. In „Dancer Sitting in Front of a Mirror“ von 1955 gelang es ihr, den Eindruck von räumlicher Tiefe in einen kleinen Raumausschnitt zu projizieren, indem sie im Spiegel die Reflexion der sitzenden Tänzerin und die Leinwand der Malerin hintereinander gestaffelt einfing. Die Gemälde dieser Phase erinnern an Werke der Neuen Sachlichkeit. Den dargestellten Protagonisten, wie beispielswiese der in legerer Haltung lesenden Dame in „The Red Vest“ mit kurzen Haaren und figurbetonter Kleidung, wohnt gleichzeitig etwas Burschikoses und zugleich sehr Zartes wie Elegantes inne.
Gilot heiratete 1955 den Künstler Luc Simon, im folgenden Jahr wurde die Tochter Aurélia geboren. Außerdem beendete Kahnweiler 1956 auf Drängen Picassos den Vertrag mit Gilot und versuchte, ihr öffentliches Auftreten einzuschränken. Ein Segelausflug in den 1960er Jahren in der griechischen Ägäis inspirierte die Malerin zu ihren monumentalen Gemälden, in denen sie ab 1967 Themen der griechischen Mythologie behandelte. Daneben verarbeitete sie in ihren „Vegetation Series“ Eindrücke aus englischen und französischen Gewächshäusern, insbesondere deren eindrucksvolle Lichtstimmung. In den Jahren 1961 bis 1964 schrieb die Malerin zusammen mit dem Kunstkritiker Carlton Lake ihre Autobiografie „Life with Picasso“, deren Veröffentlichung Picasso zu verhindern suchte. Der Züricher Diogenes Verlag hat es zu ihrem 100. Geburtstag neu aufgelegt.
1962 wurde ihre Ehe mit Luc Simon geschieden. Gilot unternahm ihre erste Reise in die Vereinigten Staaten von Amerika und begann mit ihren „Labyrinth Series“. Die Künstlerin arbeitete danach in ihrem Atelier in London und besuchte den Tamarind Lithography Workshop in Los Angeles. In Amerika lernte sie den Wissenschaftler Jonas Salk kennen, der die Impfung gegen Kinderlähmung entwickelt hatte, und heiratete ihn 1970. Ein Jahr später begann die Künstlerin mit der Dokumentation ihres Werks, das seit 1991 als „The F. Gilot Archive“ von Mel Yoakum verwaltet wird. Gilot pendelte damals zwischen Paris und dem kalifornischen La Jolla. In der folgenden Schaffensphase entstanden erste Ölbilder ohne vorbereitende Skizzen, auf denen sie schwungvolle akrobatische Silhouetten vor monochromen leuchtenden Farbfeldern festhielt. Von 1973 bis 1977 arbeitete sie als Art Director bei der wissenschaftlichen Zeitschrift Virginia Woolf Quarterly im kalifornischen San Diego. Mit „Le regard et son masque“ publizierte die Französin 1975 ein Essay über Malerei und ihre eigene künstlerische Entwicklung. Außerdem gehörte Gilot zwischen 1976 und 1983 dem Vorstand des Department of Fine Arts der University of Southern California an, an der sie Sommerkurse gab.
Bewegung, Freiheit und Eigenständigkeit
Die Künstlerin sagte einmal: „Leben ist Bewegung, das Universum kennt keinen Stillstand. Alles ist Teil des großen kosmischen Tanzes, dessen einzige Konstante der Wandel ist.“ Die Bewegung, der Wellenrhythmus des Alltags sowie die Suche nach Grenzüberschreitungen und Dramatik fließen in Gilots Œuvre ein. Von Freiheit und Ungebundenheit erzählen auch die farbenfrohen Blumenwiesen aus den 1980er Jahren, die die Künstlerin in Erinnerung an den heimischen Garten in Neuilly malte. In farbenfroher, Klimtscher Manier erstrahlen dort Felder mit wildem Mohn und Weizen. Die Stängel der Blumen präsentieren sich als unterbrochene Linien in allerlei Grünschattierungen, während die als Halbkreise hingeworfenen Blütenblätter die Spiralbewegung in ihrer Mitte fortzusetzen scheinen. Um dem tradierten passiv-lagernden Frauenakt etwas entgegenzusetzten, porträtierte Gilot in dieser Periode dynamische Schwimmerinnen, die mit entschlossenen Gesichtern und durchtrainierten Körpern durchs Wasser pflügen. Das gewählte Format des Tondos unterstützt die durch kräftige Pinselstriche und Streifen angedeutete Wellenbewegung, wie etwa in dem Gemälde „The River (Aurelia Swimming)“ von 1986.
Mehrere Reisen nach Indien mit ihrem Mann John Salk inspirierten die Künstlerin zu einem stempelartigen Monogramm als Signatur und ihren „Floating paintings“. Bei Letzteren handelt es sich um beidseitig mit Acryl bemalte Baumwollstoffe, in denen Françoise Gilot die indische Farbigkeit und Mythologie aufgriff. Sie selbst beschrieb diese Werke als „Fahnen und Banner in einer Schlacht“ gegen Hoffnungslosigkeit und Entropie. So zeigt „Bird Insignia“ von 1980 ein Quadrat mit roten, grünen und blauen Farbflächen, die durch einen weißen Rahmen getrennt sind. In der rechten oberen Fläche befindet sich ein Kreis mit einem abstrahierten Vogelsymbol, gerahmt von einem hufeisenförmigen weißen Streifen. Wer wollte nicht unter diesem Zeichen siegen? Außerdem konzipierte Gilot ab der Mitte der 1980er Jahre Theaterprospekte und Kostümentwürfe für das Guggenheim Theater in New York und illustrierte poetische Werke von Paul Éluard, Jacques Prévert oder André Verdet. Vermehrt entstanden lithografische Monotypien, unter anderem auch als Collagen wie „Aurélia“ von 1987.
Anfang der 1990er Jahre begann Gilot, an ihrer neuen Serie „The Wanderer“ zu arbeiten. Außerdem griff sie nach einer zehnjährigen Pause ihr lithografisches Schaffen wieder auf. Mitte der 1990er Jahre verlagerte die Künstlerin ihren Lebens- und Arbeitsmittelpunkt ganz nach New York. 1995 erschien das erste Werkverzeichnis ihrer Radierungen und Lithografien, im selben Jahr starb ihr Mann Jonas Salk. Teilweise nahm Gilot alte Bilder noch einmal in Angriff, jedoch nur um die Komposition zu erweitern, nie um das Geschaffene zu übermalen. Ganz nach der Maxime „Ich erneuere mich, und ich wiederhole mich nie“ ließ sich die Malerin zwar von vergangenen Werken und Studien inspirieren, ging jedoch stets den Weg der kreativen Neuschöpfung. In den Jahren 1996 bis 1998 unternahm die Französin Reisen in die heimatlichen Gefilde der Bretagne, nach Ägypten und nach Budapest zur Eröffnung einer Endre Rozsda-Retrospektive. 2001 erweiterte das Metropolitan Museum in New York seine Dauerausstellung mit drei Frühwerken Gilots, und die Kunstsammlungen Chemnitz richten 2003 die bis dahin umfangreichste Präsentation der Künstlerin in Deutschland aus, der 2011 eine Präsentation ihrer Zeichnungen folgte.
Françoise Gilot wurde mehrmals für ihr herausragendes künstlerisches Schaffen geehrt. Die Hofstra University in New York und das Ursinus College in Collegetown, Pennsylvania, verliehen ihr die Ehrendoktorwürde. Außerdem wurde sie 1988 zum Commandeur de l’Ordre des Arts et des Lettres und 1996 zum Officier de l’Ordre National du Mérite ernannt. 1990 erhielt Gilot den Orden Chevalier de la Légion d’Honneur. Fünf Jahre später wurde sie zum Mitglied der National Academy of Design in New York gewählt, und 2009 stieg sie in der Ehrenlegion zum Officier auf. Auch auf dem Kunstmarkt wird Gilot inzwischen hofiert: Erst im Mai dieses Jahres schoss bei Sotheby’s ihr Portrait der jungen „Paloma à la Guitare“ aus dem Jahr 1965 von 120.000 Pfund auf den neuen Rekordwert von 750.000 Pfund. Und schließlich war Gilot die einzige Frau, die zu Picasso Nein sagte und ihn verließ, nicht umgekehrt. |