„Offensichtlich brauchen wir eine nützliche Welt, die wir unseren Zwecken entsprechend formen können. Utilitarismus und industrielles System beherrschen das reale Material um uns herum und damit unsere Sinne und Gedanken. Manchmal wird es sogar schwierig, eine alternative Wirklichkeit zu erkennen. Wir haben uns vom reichhaltigen Formenvokabular der Natur sehr weit entfernt“. Und an anderer Stelle äußerte sich Tony Cragg im selben, 2006 aufgezeichneten Interview: „Ich bin kein Politiker, aber ich glaube, wir leben noch immer in einer Welt, die stark von hypnotischer Wirkung und mystischen Modellen beherrscht wird, die sehr ablenkend sind, weil sie uns eigentlich daran hindern, uns wirklich mit der Realität zu konfrontieren.“
Diese Äußerungen des Ausnahmekünstlers unter den Bildhauern lassen neben analytischem Scharfsinn auch ein großes Potential an sprudelnden Ideen erahnen, mit denen er den beschriebenen Phänomenen gegensteuert. Und so gestaltet sich seine erste umfassende Retrospektive zu einer von tiefem substanziellem Gehalt und immenser Dichte gekennzeichneten Schau. „Parts of the World“, so ihr Titel, ist die ausdrucksvolle künstlerische Antwort auf Geschehnisse der Zeit. Ausrichter ist das Von der Heydt-Museum in Wuppertal, der Stadt, in der der 1949 in Liverpool geborene Brite Cragg seit 1977 lebt und dessen Ehrenbürger er ist.
Angetrieben von schier unbändiger Neugier und Produktivitätsfreude zeichnet sich Craggs Œuvre durch eine für viele Besucher sicherlich zunächst einmal verwirrende Vielfalt an Formen und Materialien aus. Um die gesamte Schaffensbreite angemessen am Beispiel von 112 Skulpturen und 170 Zeichnungen vorzustellen zu können, musste Museumsdirektor Gerhard Finckh das gesamte Haus räumen. In allen 26 Museumssälen breiten sich die Exponate in Werkgruppen wie auch nach chronologischen Gesichtspunkten aus. Bei allen Wechseln und Sprüngen werden dem genauen Betrachter gewisse rote Linien nicht entgehen: Beschäftigung mit der Natur und Landschaft, mit Schöpfungsprozessen und der Rolle des eingreifenden Menschen. Auffallend tun sich dabei molekulare Strukturen hervor. Geschuldet ist dies Craggs zweijähriger Tätigkeit als Techniker in einem biochemischen Forschungslabor, bevor er 1969 mit dem Kunststudium begann.
Der Hang zur analytisch wissenschaftlichen Differenzierung schlägt bereits in frühen Arbeiten durch. Ausgehend von teils während der Studienzeit entstandenen Zeichnungen und Fotografien zeigt sich dies in gewagten Schichtungen aus Steinen, Röhren, Brettern, Pappen oder Seilen. Diese Utensilien sammelt Tony Cragg an Stränden und arrangiert sie um 1975 neu in Form glatt geschnittener Kuben, sogenannter „Stacks“ (Stapel), um dann zu Montagen aus Rohmaterialien, Fertigerzeugnissen sowie industriellen Produkten überzugehen.
Ab 1978 gestaltet er ebene Figuren aus gesammelten farbigen Plastikprodukten. Von der Zahnbürste über ein Sieb bis hin zur Flasche formt er die Objektfülle zu menschlichen Abbildern oder Szenen. Welches riesige Ideenpotential diese „Abfallkompositionen“ bereithalten, verdeutlichen leicht spielerisch anmutende Bilder, deren Harmonie in Wahrheit nicht existiert. Denn die Anhäufungen aus der Wegwerfgesellschaft sind als ironisches Porträt zu interpretieren. Allein die 16 Meter lange „Menschenmenge“ nimmt eine gesamte Wand in der Souterrainhalle des Museums ein. Wie Klebebilder werden 30 Personen auf assoziationsreiche Weise lebensgroß porträtiert. Unter Zuhilfenahme vom realen Dingen erforscht Cragg eine künstlerische Sprache, die zum Stauen und zur Kritik gleichermaßen animiert und dazu noch Hemmschwellen bei Betrachter abbaut. Souverän verwandelt er nachfolgend recht merkwürdige Stoffe wie Spielwürfel, Abwasserrohre, Möbelteile, Töpfe oder Gummibänder in von ihm vorgegebene organische Ordnungssysteme.
Mitte der 1980er Jahre verschwinden die Plastik-Assemblagen. Fortan prägen Gefäße das Werkschaffen. In langer Geduldsarbeit geschickt auf unterschiedlich hohen Glasböden arrangiert, erinnern einige Stücke an griechische Amphoren, an alchemistische Öfen, an moderne Laborgeräte oder menschliche Organe. Sie alle beteuern den Lauf der Zeit, die Fruchtbarkeit oder evozieren schleichende verworrene Gedanken. Danach kommen in Craggs Schaffen quasi-architektonische Plastiken auf. Die komplexen, windschiefen Strukturen vermitteln dann den Übergang zu organischen Urformen. DNS-artige Spiralen verweisen auf die Wurzeln wissenschaftlicher Lebenskodierung. Larven- und schneckenförmige Gefüge sind teils perforiert und lassen in ihrem organisch-gerundeten Äußeren an früheste Lebensquellen denken.
In den 1990er Jahren beschäftigt den Künstler das Thema der Wirbelsäule, aus dem sich dann Säulen mit mehrdeutigen Strukturen und Ansichten entwickeln, die aus geschichteten, unterschiedlich auskragenden Tellern bestehen. Die „Dancing Columns“ setzen dabei sogar die Schwerkraft außer Kraft. Drei monumentale, farbig gefasste Säulen nehmen einen eigen Saal in Anspruch; sie wurden extra für die Ausstellung kreiert. Elegant schrauben sich die farbig gefassten Konstrukte in die Höhe und offenbaren dabei doppelbödige Finessen, die die nach Blickrichtung subtil erkennbaren Physiognomien darlegen. Immer wird der Betrachter zum Umschreiten der Skulpturen animiert und mit einer Fülle von sich verändernden Ansichten beglückt.
Ende der 1980er Jahre arbeitet Tony Cragg an der Gruppe der „Early Forms“. Kanister, Becken oder Flaschen liegen den Formen zugrunde, die gestreckt, verdreht, gebeult teils zu beträchtlicher Größe geführt werden. Schon auf den Treppenwangen des Museumsportals empfangen die Bronzen „Mörser“ und „Flasche“ aus dem Jahr 1990 den Eintretenden. Innen- und Außenformen scheinen einmütig in Wechselrede zu stehen und ergeben höchst bizarre Quetschungen. Allein die fließenden Spannungen wecken Neugierde auf das, was sich wohl im Innern verbergen mag. Im Jahr 1995 findet mit dem Beginn der Werkfamilie der „Rational Beings“ das Fiberglas Verwendung. Schrullige verzogene Formfindungen schwingen optisch sowohl zwischen Ufos und Schneckenhäusern als auch zwischen leichter Formbarkeit und fester Massivität.
Neben dem Schliff der Arbeiten beherrscht eine enorme Materialvielfalt Craggs Schaffen. Nach Holz, Gips, Kunststoff, Bronze, Stein, Plastik und Wachs findet das weiße Schmelzglas in den allerneuesten Arbeiten Verwendung. In Murano schuf er im letzten Jahr eine Serie, die den Abschluss der Schau bildet. Nach den Zeichnungen des Künstlers versuchten die Glasermeister, seine Ideen umzusetzen. Ungewohnte Transparenz zeichnet die filigranen figurativen Gemenge aus, die vor den Augen der Bertachter wie schmelzende Eisformationen zu zerfließen oder wie amorphe Wassergüsse zu zerrinnen scheinen. Die Bestandteile sind abermals so ausdrucksvoll miteinander verschmolzen, dass sie derart entstofflicht und substanzlos Figuren-, Objekte- oder Naturbezüge fast schon im virtuellen Zustand präsentieren. Wie genau Tony Cragg seine Ideen schmiedet, kombiniert und entwickelt, beweist die Fülle an Zeichnungen und Grafiken, von denen sich viele gar nicht in Skulpturen umsetzen lassen. Sein grenzenloses Sammeln, Kombinieren und Entwickeln scheint kein Ende zu haben.
Die Ausstellung „Tony Cragg – Retrospektive – Parts of the World“ ist bis zum 14. August zu besichtigen. Das Von der Heydt-Museum hat täglich außer montags von 11 bis 18 Uhr, donnerstags bis 20 Uhr geöffnet. Der Eintritt beträgt 12 Euro, ermäßigt 10 Euro. Zur Ausstellung ist ein umfangreicher Katalog erschienen, der im Museum 38 Euro kostet. |