Wenn der Besucher Tickets für die Ausstellung „I Got Rhythm. Kunst und Jazz seit 1920“ erwirbt, bekommt er einen kostenlosen Audio-Guide ausgehändigt. Was den Gast des Kunstmuseums Stuttgart zunächst verwirren mag, ergibt in Anbetracht der Thematik durchaus Sinn: Der kommunikative Besucher wird nicht anhand von Texten an den Wänden sondern durch gesprochene Informationen und Musik durch die Schau geleitet. Allein drei einführende Texttafeln fassen die Inhalte der drei Ebenen zusammen. Die unterste Etage widmet sich der Entstehung des Jazz. Die Beeinflussung der englischen und amerikanischen Popkultur und der Künstler zur Mitte des vergangenen Jahrhunderts legt das mittlere Stockwerk dar. Das oberste Geschoss geht auf die Künstler ein, die die Jazzgeschichte seit den 1970er Jahren als Material verwenden und verfremden.
Die Kuratoren Sven Beckstette und Eva-Marina Froitzheim haben sich als Wandfarbe für Schwarz und Weiß entschieden, wodurch die 140 hochkarätigen und oft kunterbunten Exponate passend präsentiert werden. Zudem erinnern die Farben an schwarze Noten auf weißem Papier oder auch an die Hautfarbe der Musiker und Künstler, denn Jazzmusik war die erste anerkannte Musikrichtung der afroamerikanischen Bevölkerung. Was die inhaltliche Orientierung angeht, ist der Besucher auf sein Auge und vor allem auf seinen Audio-Guide angewiesen. Mit dem ausgehändigten, in der Bedienung nicht für jeden sofort verständlichen Smartphone erhält er einen digitalen Plattenspieler, mit dem er neben den Exponaten angebrachte Schallplatten scannen kann. Daraufhin erscheint ein kleines Menü, das gesprochene Informationen und Texte bereithält, aber auch die passende Musik zur Verfügung stellt. Der Besucher kann so in die Musikwelt eintauchen und die ansprechende, thematisch klare Ausstellung mit mehreren Sinnen erleben.
Sie beginnt chronologisch mit der Herausbildung des Jazz. Entlang des Mississippi entstand um 1900 die neue Musikrichtung mit dem Zentrum New Orleans. Die Hafenstadt führte zur Vermischung unterschiedlicher musikalischer Kulturen aus Amerika, Europa, Afrika und der Karibik. Auch Kansas City und Chicago waren Hochburgen des Jazz. Albert Oehlen porträtierte die frühen Größen der neuen Musik mit schwarzer Tusche und schnellem Strich. Das europäische Gegenstück bilden Tanzpaare von Gino Severini und Ernst Ludwig Kirchner, die den Zustand dokumentierten, bevor der Jazz auch nach Europa kam und dort begeistert aufgenommen wurde.
Der zweite, in schwarz gehaltene Saal der Ausstellung widmet sich Josephine Baker als Ikone des Jazz. Einander gegenüber stehen Paul Colins Mappenwerk „Le Tumulte noir“ und die Scherenschnittreihe „Jazz“ von Henri Matisse. Beide farbenfrohe Werke behandeln den extravaganten Tanzstil der „Schwarzen Venus“ und die Rhythmen des Jazz. Ein Video, das Josephine Baker beim Tanzen zeigt, Fotos und das Modell einer Villa, die Adolf Loos für sie entwarf, geben Einblick in die Welt der exotischen Tänzerin. Auch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts behält die Figur der Josephine Baker ihre Relevanz für die bildende Kunst und wird nun zum Gegenstand postkolonialistischer und feministischer Positionen von Künstlerinnen wie etwa Kara Walker, Marlene Dumas und Ditte Ejlerskov.
Der dritte Raum widmet sich der Geschichte des Jazz zwischen 1920 und 1940. In Deutschland ließen sich Max Beckmann und Otto Dix von der neuen Musikrichtung beeinflussen und malten das bunte Treiben der Musiker und Tänzer. Aber auch die abstrakten Maler wie Piet Mondrian oder Arthur Garfield Dove orientierten sich an den freien Rhythmen des Jazz. Neben Malerei stellt das Kunstmuseum Stuttgart hier auch diverse Plattencover vor. Unter den Nazis war der Jazz als „Negermusik“ dann verboten. So war K.R.H. Sonderborg in einem Konzentrationslager inhaftiert worden, weil er ein „Swing Boy“ war, ein Liebhaber afroamerikanischer Musik. Nach dem Krieg avancierte er zu einem wichtigen Vertreter des europäischen Informel. Seine gestischen Bilder, in denen sich Tempo und Geschwindigkeit der Zeit widerspiegeln, fertigte er häufig zu Jazzmusik an, darüber hinaus trat er gemeinsam mit improvisierenden Musikern auf.
Ein Geschoss weiter oben setzt die Schau mit der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg ein. Der Abstrakte Expressionismus wurde wie der Jazz als amerikanisch und demokratisch frei verstanden. Von den Wechselwirkungen der beiden Medien zeugt ein Albumcover des Saxophonisten Ornette Coleman mit einem Gemälde Jackson Pollocks. Der Maler wiederum ließ sich im Schaffensprozess von der Jazzmusik inspirieren, während er die Farbe auf die Leinwand tropfte. Auch zwischen der Geometrischen Abstraktion und dem Jazz gibt es Verbindungslinien; dafür stehen etwa Werke von Verena Loewensberg oder Frank Stella. Obwohl der Jazz Freiheit symbolisierte, wurden Afroamerikaner immer noch unterdrückt. Gleichzeitig war er jedoch auch eine Art Soundtrack des Protestes. In den 1940er Jahren wandelte sich der Jazz zum Rock`n`Roll und somit zur beliebten Tanzmusik der Teenager. Auch die Popmusik der 1960er Jahre bediente sich bei dieser Musikrichtung, was die Ausstellung anhand eines riesigen in Rosa gemalten Porträts des Gitarristen Bo Diddley von James Rosenquist deutlich macht. Auch der amerikanische „Double Elvis“ von Andy Warhol ist hier vertreten.
Der Reflexion der Jazzgeschichte in den 1970er Jahren bis heute widmet sich das dritte und letzte Geschoss. Diverse Tablets mit Jazzalben und Kopfhörern sowie eine lange Sitzbank laden hier zum Betrachten der Kunst an den Wänden, aber auch zum Verweilen und Stöbern ein. Im Westen Deutschlands fertigte Walter Stöhrer gestisch-abstrakte Gemälde zu Jazzmusik, im Osten musizierte und malte A.R. Penck und erinnerte an das Klischee des Jazz als Musik der primitiven Afrikaner. In der Mitte des Ausstellungssaales ist ein weiterer kleinerer Raum mit einer Videoinstallation eingezogen. Stan Douglas und die gesellschaftspolitisch agierende Otolith Group haben das Studio der Columbia Records in New York nachgebaut, in dem unter anderem Miles Davis, Bob Dylan und Glenn Gould ihre Alben aufnahmen. Dort improvisieren zehn Musiker in einem sechsstündigen Loop über Grooves aus der funkigen Jazz-Rock-Periode; die Trompete, das Instrument von Miles Davis, fehlt hier jedoch. Daraus ergibt sich die Frage, wie die Entwicklung des Jazz verlaufen wäre, wenn der Musiker sich nicht kurze Zeit später krankheitsbedingt für viele Jahre aus dem Musikleben zurückgezogen hätte.
Die Ausstellung „I Got Rhythm. Kunst und Jazz seit 1920“ läuft bis zum 6. März 2016. Das Kunstmuseum Stuttgart hat dienstags bis sonntags von 10 bis 18 Uhr, freitags zusätzlich bis 21 Uhr geöffnet. Der Eintritt beträgt 12 Euro, ermäßigt 8,50 Euro. Der begleitende Katalog kostet 35 Euro, im Buchhandel 49,95 Euro. |