Ein kleiner schmiedeeiserner Schlangenkopf begrüßt die Besucher des Schweizer Pavillons auf der diesjährigen Biennale von Venedig. Doch das Reptil mit der züngelnden Zunge verfügt auch über einen Körper, der sich mit einer Länge von 80 Metern wie eine minimalistische Geste durch das 1952 von dem Architekten Bruno Giacometti erbaute, elegant-modernistische Raumensemble windet. Sie ist nicht groß – der Schlangenkörper besteht nur aus einer dünnen schwarzen Eisenstange –. aber dennoch eine unübersehbare Linie in der ansonsten fast leeren Umgebung.
„Die Schlange empfängt die Besucher und funktioniert wie eine Art Wächter des Pavillons. Außerdem lenkt sie die Blicke der Betrachter“, sagt Valentin Carron, der 1977 in Martigny im Kanton Wallis geborene Künstler, der die Schweiz in diesem Jahr alleine repräsentiert. Carron – sein Habitus, die ständig glimmende Zigarette, der Schal und seine sehr spezielle Art zu formulieren, erinnern ein wenig an den französischen Skandalautor Michel Houellebecq – gehört zur Zeit zu den absoluten Shooting Stars der Schweizer Kunstszene. Bereits mit 23 Jahren hatte er im Jahr 2000 sein Kunststudium an der renommierten ECAL, der Kunstschule in Lausanne, beendet. Was folgte, waren Einzelausstellungen etwa 2006 am Swiss Institute in Manhattan – hier testet die Schweiz ihren künstlerischen Nachwuchs unter den erschwerten Bedingungen der New Yorker Aufmerksamkeitsökonomie –, 2007 in der Kunsthalle Zürich und 2010 im Palais de Tokyo in Paris. Für 2014 ist eine Einzelausstellung in der Kunsthalle Bern geplant. Vertreten wird Carron unter anderem von der Zürcher Galeristin Eva Presenhuber.
Doch zurück zum Schweizer Pavillon. Mit seiner Strategie der formalen Einverleibung und oftmals ironischen Umdeutung vorgefundener Kunstwerke, Objekte und Materialien hat sich Valentin Carron einen festen Platz in der zeitgenössischen Kunst erobert. Für Eva Presenhuber steht er „in der Tradition von Pop Art, Arte Povera, Fetish Finish und Appropriation Art“. Nichts ist bei ihm so wie es scheint. So hängen an den Wänden des großen Ausstellungsraums sechs große Objekte, die an abstrakte Werke der Nachkriegskunst zu erinnern scheinen. In Kirchen oder öffentlichen Gebäuden aus dieser Zeit entdeckt man häufig „dalles de verres“, opaleszente, in Beton eingegossene, farbige Glasflächen, die eher dekorativen als funktionalen Charakter haben. Prominentestes Beispiel ist vielleicht Le Corbusiers Wallfahrtskirche Notre-Dame-du-Haut de Ronchamp.
Carron greift allerdings auf ein anderes Vorbild zurück: die Glasfenster der Académie des Beaux Arts in Brüssel. Was aussieht wie ein ausgefrästes Stück Beton mit bunten gläsernen Einsprengseln in Bordeauxrot oder Flaschengrün, besteht bei Valentin Carron letztlich aus einer Mischung aus Polystyrol, Acrylfarbe und Fiberglas. Alles ist Remake, Fake, billige Kopie. Durch Titel wie „Rhapsodie, das warme Unwetter aus Acryl und Blut“ oder „Die zerbrochene Brücke eurer reinen aber unerwarteten Infamien“ wird die kulturelle Wertigkeit des Vorbildes zusätzlich gegen den Strich gebürstet. High and Low treffen gnadenlos aufeinander.
Valentin Carron dekonstruiert, was sich ihm störend in den Weg stellt. Häufig stacheln ihn die touristischen und folkloristischen Klischees und Stereotype seiner Heimat Wallis, einer der Geburtsstätten des Massentourismus, zu bissigen Umdeutungen und Neuinterpretationen an. So kreierte er den Kunstwein „Château Synthèse“, der ganz ohne Traubenbestandteile produziert wurde, oder er stellte einen überdimensionalen Bären, mythenbesetztes Symbol seiner alpinen Heimat, aus Fiberglas ins Museum. Der Zürcher Tages-Anzeiger nannte derlei despektierliche Kunstproduktion „im Trashtal der Gegenwart angekommene artistische Alpentransversale: Ironisierung aller Klischees, Entzauberung total“.
Ganz im Gegensatz zu den meisten seiner Generationskollegen zieht es Valentin Carron nicht in die großen Metropolen. Carron hat nicht etwa ein Atelier in Paris, Berlin oder New York. Er lebt und arbeitet nach wie vor in dem Ort, wo er geboren und aufgewachsen ist: Martigny, einer 16.000 Einwohner großen, zersiedelten Kleinstadt. Wenn man so will, ist er ein Heimatkünstler. Allerdings einer, der das kulturelle Erbe seiner Herkunftsregion nicht affirmativ dupliziert, sondern messerscharf analysiert und gehörig gegen den Strich bürstet. Da liegt es auf der Hand, dass auch die Schlange nicht einfach nur einer Laune entsprang. Carron fand das Vorbild zwar nicht im Wallis, aber an einem Fenstergitter der um 1900 errichteten Stadtzürcher Polizeiwache. Seine Adaption dieses Motivs beinhaltet die geballte ambivalente Symbolik des Reptils: Angefangen bei der Versucherin im Garten Eden über die Heilsbringerin am Äskulapstab bis hin zur Schlangenplage des Volkes Israel in der Wüste. Pikant an Carrons Version ist zudem die Doppelköpfigkeit des Tieres. Ebenso wie sie den Besucher empfängt und begleitet, verabschiedet sie ihn auch wieder 80 Meter weiter am Ausgang des Pavillons. Carron sagt dazu nur so viel: „Die Schlange ist ein Symbol der Angst, um genauer zu sein der Urängste.“
Doch Valentin Carron hat noch einige weitere, sich dem Betrachter erst nach und nach erschließende Elemente und Fallstricke in seine im Vergleich zu anderen Nationenpavillons minimalistische und nahezu bescheidene Präsentation eingebaut. An acht über den Pavillon verteilten Stellen stößt der Betrachter auf teilweise camouflageartig an der Wand befestigte Trompeten, Posaunen, Saxophone, eine Tuba und weitere deformierte Blechblasinstrumente, die aussehen, als wären sie mit einer Dampfwalze plattgedrückt worden. Tatsächlich aber handelt es sich um Bronzeabgüsse von Originalinstrumenten, die Carron zuvor in einer performativen Aktion mit den eigenen Füssen zertreten hat. So brutal es klingt, ist auch das wieder eine keineswegs cholerische sondern anspielungsreiche Geste, bezieht sich Carron doch einmal mehr auf kunstgeschichtliche Vorbilder, deren heutige Relevanz er schonungslos auf den Prüfstand stellt. In diesem Fall auf Künstler des Nouveau Réalisme wie César, der in den 1960er Jahren, durch Akkumulationen und Kompressionen auf sich aufmerksam gemacht hat.
Ganz im Gegensatz dazu steht das letzte Element dieser konzisen Präsentation im Schweizer Pavillon mit dem Titel „Ciao n°6“: ein nahezu perfekt restauriertes, wie zufällig abgestelltes Mofa der italienischen Traditionsmarke Piaggio. Zwischen 1967 und 2006 millionenfach gebaut und für Generationen von Jugendlichen eine Art erstes Ausbruchsvehikel aus der Enge des Elternhauses, umrankt dieses einfache Gefährt der Nimbus einer Popikone. Für Carron stellt seine zwar restaurierte, aber immer noch die fein ausbalancierte Distanz zum fabrikneuen Produkt haltende Version eine Art sentimentale Hommage an die unaufhörlich im Verschwinden begriffene, analoge europäische Industrieproduktion dar. Etwas Beständiges in einer dem ständigen Wechsel unterworfenen Konsumwelt, die alle drei Monate neue, aufgemotzte Varianten von Fernsehern, Autos oder Handys auf den Markt wirft.
Brutale Zerstörung einerseits, liebevolle Restaurierung andererseits. Valentin Carrons künstlerische Strategie mag auf den ersten Blick paradox wirken. Da werden kulturell hoch stehende Musikinstrumente einfach zertrampelt, ein Allerweltsmofa dagegen zum eleganten Readymade auffrisiert. Valentin Carron dazu: „Ich liebe Kontraste: etwas, das gleichzeitig Schwarz und Weiß ist und ebenso rauh wie glatt, gleichzeitig leicht und schwer, elegant oder ganz roh.“ So reüssierte er 2009 während der Art Basel vor der internationalen Sammlerelite mit einem gigantischen schwarzen Kreuz auf dem Messeplatz, das mit seiner düsteren Anmutung stark polarisierte. Zu einer seiner Ikonen allerdings gehört auch die auf Collagen immer wieder verwendete Fotografie seiner 2011 entstanden Skulptur „Jean-Baptiste“, die die eigenen Füße in löchrigen blauen Socken, und somit den Künstler in all seiner Sensibilität und Verletzlichkeit zeigt. Valentin Carron ist ein leiser Künstler, der immer dann, wenn er es für erforderlich hält, sehr laut werden kann. |