 |  | Abraham Roentgen, Mehrzwecktisch, um 1760 | |
Ein Tischbein lässt sich samt Zargenstück im rechten Winkel abknicken und bildet so die Stütze für die umschlagbare Tischplatte. Löst man nun eine Arretierung durch einen kleinen Hebel, so schnellt ganz von allein ein stattlicher Kasten mit mehreren kleinen Schubladen und einem Mittelfach aus dem Korpus des Tisches hervor. Mittels Federdruck funktioniert dieser ausgeklügelte Hebemechanismus. Am Boden des selbsttätig hochfahrbaren Eingerichts verhindern angebrachte Flacheisen, dass der Kasten nicht über das Tischblatt hinausspringt. Für einen stabilen Stand sorgen zwei seitlich angebrachte Federn, die jeweils ein kräftiges Furnierblatt oberhalb der Tischfläche herausdrücken und diese so als Standfläche nutzen. Alles ist genau durchdacht.
Roentgen-Möbel faszinieren bis heute, so auch dieser um 1760 von Abraham Roentgen geschaffene Mehrzwecktisch, der sechs Jahre später vom Würzburger Fürstbischof Adam Friedrich von Seinsheim erworben wurde. Ihre Mechaniken sind Wunderwerke der Technik. Als Schreinerarbeiten sind sie Prunkstücke. Größte Perfektion und die kostbarsten Materialien zeichnen sie aus. Sie bestechen mit den feinsten Einlegearbeiten, die mit ihrem Illusionismus eher an Malerei, als an Arbeiten mit Holz erinnern. Sie sind weitaus mehr als bloßes Handwerk oder Gebrauchsgegenstände, sie sind Kunst. So erstaunt es nicht, dass die Möbel bereits zu ihrer Entstehungszeit im 18ten Jahrhundert an den Höfen und in den Salons des Alten Europas nicht nur gefragt, sondern bereits zum Mythos erhoben wurden. Verwunderlich ist vielmehr, dass diese Möbel nicht in Paris oder London entstanden, sondern in Neuwied, dem kleinen Städtchen am Rhein.
Hier ist es nun auch, wo das vom Kreis getragene Roentgen-Museum und die Städtische Galerie Mennonitenkirche anlässlich des 300sten Geburtstages von Abraham Roentgen (1711-1793) zu einer Ausstellung einladen, die neben seinen Werken auch wenige Zeit später entstandene Glanzstücke der Gebrüder Thonet präsentiert und in einem weiteren Teil die Geschichte des Möbels bis in die Moderne nachzeichnet. Noch einmal blitzt so die Bedeutung Neuwieds auf, die es einst für die Möbelkunst Europas innehatte. Hier war es, wo sich Abraham Roentgen, der Sohn eines Schreiners, 1750 niederließ und seine Manufaktur gründete. Hier war es, wo der Geschmack Europas mitbestimmt wurde.
Der erste Teil der Ausstellung im Roentgen-Museum widmet sich der Neuwieder Manufaktur und vergleicht ihre Erzeugnisse mit den kurze Zeit später entstandenen Möbeln der Gebrüder Thonet. Die Gegenüberstellung verdeutlicht, welche Kluft im Zeitgeschmack zwischen den jeweiligen Kunsttischlern klafft. Nicht nur die gemeinsame Herkunft aus der rheinischen Region – der eine aus Neuwied, der andere aus Boppard – rechtfertigt die Gegenüberstellung. Gemeinsam ist den beiden Betrieben ihr großes Innovationspotenzial, sowohl auf technischem als auch auf arbeitsorganisatorischem Gebiet, das sie jeweils für ihr Geschäft nutzbar machten. Ein zweiter Teil der Schau in der Städtischen Galerie Mennonitenkirche widmet sich dann ausgehend von der seriellen Fertigung Thonets, der Entwicklung des modernen Möbeldesigns. Gezeigt werden in einer schönen Zusammenstellung allseits bekannte Klassiker der Moderne.
Der Mythos Roentgen
Im rheinischen Mülheim bei Köln geboren, kam Abraham Roentgen in den 1730er Jahren über die Niederlande nach London. Dort lernte er neben seinem Handwerk das Einlegen von Holzmosaiken in Form von Intarsie und Marketerie sowie wichtige Erkenntnisse für die Mechanik seiner Möbel. Er bekam Einblicke in die Organisation von großen Handwerksbetrieben und entdeckte das fortschrittliche Wirtschaftsleben der Metropole. Exotische Holzarten und die neuesten Möbeltypen und -formen wurden ihm dort vertraut. Abraham Roentgen konnte also auf einen reichen Erfahrungsschatz zurückblicken, als er sich in Neuwied niederließ, von wo aus seine Erfolgsgeschichte als einer der bedeutendsten deutschen Möbelkünstler begann. Seine Werkstatt entwickelte sich vor allem unter seinem Sohn David in der zweiten Hälfte des 18ten Jahrhunderts zur erfolgreichsten und innovativsten Möbelmanufaktur Europas. Schon zu Lebzeiten waren die Neuwieder Kreationen hochbezahlte Luxusgüter, und auch heute erzielen Roentgen-Möbel im internationalen Kunsthandel leicht sechsstellige Beträge.
Die Ausstellung zeigt nun neben einigen Stücken aus der eigenen Sammlung eine Reihe bisher noch nie präsentierter Möbel der Neuwieder Manufaktur aus Privatbesitz. Bewundern kann man beispielsweise ein bisher unpubliziertes Kommodenpaar von Abraham Roentgen, das aus der Sammlung der Reichsgräfin von Schönborn-Wiesentheid stammt und bis in die jüngste Zeit in Familienbesitz blieb. Die Kommoden belegen eindrucksvoll typische Merkmale von Abrahams Formensprache auf: Charakteristisch sind beispielsweise das Rundstabprofil um die Schubladenfronten und die gerundeten Furnierüberlappungen an den Beinstollen. Auch die mit Messinghohlkehlen ausgekleideten Traversen sind eines seiner wiederkehrenden Motive. Bei der Gestaltung dieses Möbelpaares schaffte Abraham es, wie so häufig, Elemente des englischen Handwerks mit den führenden französischen Formen des Rokokos zu verbinden und etwas Eigenes zu schaffen.
Vom Rokoko zum Klassizismus
In den 1770er Jahren erkannte David Roentgen den Stilwandel, der sich in Paris abzeichnete, und fertigte so in Deutschland die ersten klassizistischen Möbel. Er belieferte mit einem weitgefächerten Betriebsnetz zahlreiche europäische Könige und Fürsten und konnte zu seinen bedeutendsten Kunden die russische Zarin Katharina die Große zählen. Die modernen, gradlinigen Formen des Klassizismus lassen sich beispielsweise bei einem Tisch aus rheinischem Privatbesitz entdecken, der aus den Jahren um 1775/80 stammt. Auch eine um dieselbe Zeit entstandene Kommode wird in der Literatur unter die „französische“ Linie der Manufaktur gefasst. Einem Trend der Zeit folgte David Roentgen auch mit zahlreichen Chinamotiven, etwa auf der Tür eines Halbschranks, der ebenfalls unter die dem französischen Beispiel folgenden Möbel gezählt wird. Die Marketerie aus feinen, verschieden gefärbten Holzsorten zeigt einen Chinesen mit einer langen Pfeife, unter einer Palme sitzend. Die Szene wird durch die wunderschöne Maserung des sie umgebenden Nussbaumholzes baldachinartig eingefasst.
Im zweiten Stock der Ausstellung des Roentgen-Museums werden die Ausmaße der Neuwieder Manufaktur deutlich: In seiner Hochzeit beschäftigte der Betrieb rund 80 bis 100 Mitarbeiter, wodurch eine arbeitsteilige Fertigung produktionstechnische Vorzüge brachte, die sich auch in der Qualität der Möbel offenbaren. David Roentgen schaffte es, bedeutende Zeitgenossen für seine Produktion zu gewinnen, die auf bestimmte Bereiche spezialisiert waren. So entstanden in Zusammenarbeit mit Christian Kinzing und seinem Sohn Peter qualitätsvolle Standuhren, die im Museum vor dunkelrotem Stoff eindrucksvoll in Szene gesetzt wurden. Die Apoll-Uhr zeugt außerdem von einer weiteren produktiven Zusammenarbeit: Hier waren nicht nur David Roentgen und Peter Kinzing beteiligt, sonder auch französische Handwerker; die Figur des Sonnengottes und Chronos unter dem Ziffernblatt bilden die Glanzstücke des reich feuervergoldeten Bronzeschmucks, den der Ziseleur François Rémond in Paris anfertigte. Es lohnt sich, dieses Ausstellungsstück nochmal im Original zu bewundern, denn im nächsten Jahr tritt die Uhr eine weite Reise an. Das Metropolitan Museum in New York hat bei Bernd Willscheid, dem Museumsleiter, angefragt und will die Arbeit für eine große Roentgen-Ausstellung ausleihen, erzählt er nicht ohne Stolz.
Die Betriebsform der Manufaktur ermöglichte zum einen die Spezialisierung der einzelnen Mitarbeiter, zum anderen ließ sie es ebenfalls zu, die Möbel in größeren Mengen zu fertigen, meist sogar in kleinen Serien. Damit sind die Roentgen-Möbel Zeugen eines dynamischen Unternehmertums am Vorabend der Industriellen Revolution und verweisen ganz entschieden auf in der Folgezeit immer wichtiger werdende Wirtschaftspraktiken.
Serielle Produktion bei Michael Thonet
Die in der Roentgen-Manufaktur entwickelten Zielsetzungen und Arbeitsbedingungen waren allerdings nach wie vor dazu gedacht, fürstliche Kundschaft zu bedienen. Die Spezialisierung der Mitarbeiter zielte darauf ab, jedes Möbel als einzigartiges Kunstwerk zu gestalten. Der Kunsttischler Michael Thonet (1796-1871) ging einen Schritt weiter. Er suchte nach neuen Herstellungstechniken, um eine massenhafte Produktion von Möbeln zu ermöglichen. Neuartig in Form und Gestaltung sind deshalb die Arbeiten Thonets, die sich von den Roentgen-Möbeln unverkennbar abgrenzen. Deutlich bekommt der Ausstellungsbesucher diese Unterschiede vor Augen geführt, wenn er im zweiten Stock des Hauses im hellen Saal steht, wo zwei nebeneinander gestellte Stühle den Stilwandel exemplifizieren.
Noch im Roentgen-Museum werden einige frühe Stücke Michael Thonets präsentiert. Der Kunsttischler gründete gerade einmal 23jährig, 1819, seine erste Schreinerwerkstatt in Boppard, nur wenige Kilometer von Neuwied entfernt. Vornehmlich Arbeiten aus dieser Zeit und frühe Stücke von seiner Tätigkeit in Wien sind hier ausgestellt.
Schon in Boppard entwickelte Thonet eine neuartige Herstellungstechnik, die sich als äußerst zukunftsweisend für die Geschichte des Möbels herausstellen sollte: Die Schichtholzverleimung. Es entstehen die „Bopparder Fauteuils“, deren Armlehnen an ihren Enden spiralförmig eingedreht sind, und der „Bopparder Sessel“, ein Stuhl ohne Armlehne, die beide in der Schau zu sehen sind. Besonders stolz berichtet Bernd Willscheid von einer Leihgabe des Londoner Victoria & Albert Museums. Der in Schichtholztechnik gefertigte Stuhl wird fälschlicherweise aufgrund seiner großen Ähnlichkeit zum Thonetschen Bopparder häufig Michael Thonet zugeschrieben, stammt aber aus der Werkstatt Peter Mündnichs aus Koblenz, wie die neuesten Entdeckungen des Kurators Wolfgang Thillmann belegen können. Der Lichtensteiner Sessel um 1850 steht am Anfang einer Entwicklung, die zu den massiv gebogenen Bugholzmöbeln führt.
Die Nummer 14
Als Michael Thonet 1842 nach Wien ging, verbesserte er sein innovatives Verfahren, so dass es ihm letztendlich gelang, Holz massiv zu biegen. Mit der Eröffnung seiner ersten Fabrik in mährischen Koritschan im Jahr 1856 gelang es ihm, Möbel seriell zu produzieren. Von allen bisherigen Herstellungsverfahren in der Möbelproduktion unterscheidet sich das Thonetsche Vorgehen durch eine Fertigung der Einzelteile in gleichen Formen. So kommt es zu der Entstehung des berühmten Kaffeehausstuhls Nr. 14, den wohl nahezu jeder kennt, auch wenn man ihm in Wien, Berlin, London, Paris oder New York begegnet. Rückblickend kann man feststellen, dass mit diesem Stuhl die Ära des modernen Designs beginnt.
Modernes Möbeldesign
Diese zentrale epochale Stellung hebt die Neuwieder Ausstellung anschaulich hervor. Endet die Schau des Roentgen-Museums mit dem Kaffeehausstuhl, so beginnt die Ausstellung der Städtischen Galerie Mennonitenkirche mit eben diesem. In den zweiten Räumlichkeiten wird am Exemplum des Sitzmöbels die Entwicklung des Designs nachvollzogen. So treten neben der berühmten Nr. 14 die nicht weniger bekannten Stuhlmodelle Nr. 18 und Nr. 56 der Gebrüder Thonet an. Auch ein „Schaukelsofa“, das vermutlich von August Thonet um 1875 geschaffen wurde, darf natürlich nicht fehlen.
Das gesamte 19te Jahrhundert lang blieb Holz das bevorzugte Material, dessen neue Ausdrucksmöglichkeiten die Architekten der Wiener Sezession für sich entdeckten. Dekoratives wird reduziert, die Linie wieder betont. Weiter entwickelte Verfahren geben Künstlern wie Josef Hoffmann und Gustav Siegel jetzt auch die Möglichkeit rechteckige Holzquerschnitte zu biegen, so dass Modelle wie Hoffmanns „Fledermaus-Fauteuil“ um 1905 mit neuen Formen und innovativer Ästhetik überraschen können.
In den 1920er Jahren bekommt das Bugholz durch das Stahlrohr Konkurrenz. Das glänzende, harte Material steht im symbolischen Gegensatz zu dem das 19te Jahrhundert repräsentierenden Holz und ermöglicht weitaus kühnere Formideen. Architekten wie Marcel Breuer, Le Corbusier oder Ludwig Mies van der Rohe arbeiten mit verchromten Stahlrohr, Leder und Eisengarn, das 1926 eigens für Breuers Sitzmöbel am Bauhaus entwickelt wurde. Sein „Armlehnsessel B 35“ in der Ausstellung wurde ab 1930 sogar von der „Gebrüder Thonet AG“ hergestellt.
Dennoch, ganz und gar trennte man sich nicht vom Holz: In Skandinavien greift Alvar Aalto erneut das Thonetsche Verfahren aus Boppard auf und kombiniert die Schichtholzverleimung mit Sperrholzverformung. Die Sitzfläche des „Stapelstuhl Modell 46, Wb 6“ legt davon ein Zeugnis ab. Beim „Armlehnsessel 36/401“ gelang es Aalto durch die Orientierung an Thonet zum ersten Mal, das Prinzip eines freischwingenden Sitzmöbels in dem Werkstoff Holz auszuführen.
Die gleichen Techniken nutzen Charles und Ray Eames in den USA in den 1940er Jahren. Unter ihnen entstehen auch die ersten Sitzschalen aus Fiberglas, wie der „DAR – Dining Armchair Rod“, der ab 1950 produziert wird. Arne Jacobsen hingegen bleibt dem Holz treu und fertigt Stühle mit Sitzschalen aus Sperrholz und Beinen aus Rundstahl. Der „Stuhl 3100 Ant“ ist das erste einer Reihe ähnlich konstruierter Modelle: Sitz und Rückenlehne bestehen aus einem einzigem Stück und ruhen auf einem Gestell aus Metall, welches das Stapeln der Stühle ermöglicht.
Den endgültigen Siegeszug tritt der Kunststoff in den 1960er Jahren an. Der dänische Designer Verner Panton schuf einen hinterbeinlosen Stuhl aus einem einzigen Stück Kunststoff, der als „Panton-Chair“ für eine Reihe von Designern in den 1970er Jahren zur Orientierung wurde. Sowohl der „Känguruh“-Stuhl von Ernst Moeckl hat ihn als Vorgänger, als auch „Casala“ und „Casalino“ von Alexander Begge. Auch Steen Østergaard ließ sich bei seinem „Cado 290“ von Panton inspirieren.
Durch die Ölkrise 1973 erlangten die Menschen das Bewusstsein, dass der Rohstoff Erdöl, auf dem alle Kunststoffe basieren, ein wertvolles Gut ist, mit dem bedacht umzugehen ist. Die Verbraucher setzen seitdem mehr und mehr auf umweltbewusste Materialien, wie recyceltes Plastik. Der Materialmix ist vielfältiger, heute es gibt keine Präferenzen. Und so lässt sich momentan noch kein Trend ausmachen.
Die Ausstellung „Möbeldesign – Roentgen, Thonet und die Moderne“ ist noch bis zum 4. September zu sehen. Das Roentgen-Museum (Kreis-Museum) Neuwied und die Städtische Galerie Mennonitenkirche haben täglich außer montags von 11 bis 17 Uhr geöffnet. Der Eintritt beträgt für bei de Orte 7 Euro, ermäßigt 5 Euro. Ein Katalog zur Ausstellung ist an der Museumskasse für 34 Euro zu erwerben. Am 21. August können Besucher zur Aktion „Thonet oder Tand?“ ihre Thonet-Möbel mitbringen, um sie von Wolfgang Thillmann begutachten und schätzen zu lassen.
Städtische Galerie Mennonitenkirche Neuwied
Schlossstraße 2
D-56564 Neuwied
Telefon: + 49 (0)2631 – 20 687 |