Mathematik und Kunst – diese Verbindung wird gemeinhin als widersprüchlich und daher schwierig empfunden. Hier die nackten, rationalen Zahlen samt klarer Ergebnisse, dort das ausgreifend Fantasievolle. Doch gerade Gegensätze ziehen sich bekanntlich auch an, ja völlig unterschiedliche Gebiete können obendrein zum gegenseitigen Nutzen eine erfolgreiche Symbiose bilden. Die in der Antike enge Verbindung von Kunst und Mathematik, die beispielsweise in der Stadtbaukunst oder Proportionierung von Statuen deutlich offenbar wird, rückt in der Renaissance erneut eng zusammen. In Masaccios Trinitätsfresko in S. Maria Novella zu Florenz findet 1427 zur Zeit der Frührenaissance die Erkenntnis der (Zentral-)Perspektive erstmals erneut in einer räumlichen Darstellung adäquaten Ausdruck in der Malerei. Bis zur Renaissance greift auch derzeit eine Ausstellung des Museums Moderner Kunst (MUMOK) in Wien zurück und nimmt die Bezüge von Kunst und Mathematik unter die Lupe.
Die Struktur des Bildraumes und geometrischer Körper beschäftigt im 15ten Jahrhundert Künstler wie Theoretiker. In beiden Sparten betätigt sich der Nürnberger Albrecht Dürer. Er war begeistert von der Geometrie, verfasste das erste Mathematikbuch in deutscher Sprache sowie vier Bücher zur Proportionslehre als Hilfestellungen für Künstler und Handwerker. Sein 1514 entstandener Kupferstich „Melencolia I“ wird als Hommage an die Geometrie und Ausdruck des Nachdenkens über Konstruktionsprobleme gewertet. Ein engelhaftes Wesen schaut, einen Zirkel in der Hand haltend, schwermütig in die Weite. Es ist umgeben von Waagschale, Hobel, Stichsäge, Kneifzange, Sanduhr, quadratisch untergliedertem Zahlenbrett sowie einer vordergründigen Kugel. Ein zurückversetzter und auf den Kopf gestellter Würfel soll andeuten, dass mit den herumliegenden Werkzeugen eine Zweitfassung der Kugel in Arbeit ist.
Die Suche nach Regeln und Ordnungen in stilistischen Ausprägungen, planerischen Fassungen, Ornamenten, abstrakten Mustern zieht sich über unterschiedliche Formeln, wie Teilungsverhältnisse ähnlich dem berühmten „Goldenen Schnitt“, sowie Proportionstheorien, Perspektiven und Vexierbildern bis ins 20ste Jahrhundert. Paul Cézanne stellt 1907 fest, dass sich alles in der Natur so modelliert wie eine Kugel, ein Kegel oder ein Zylinder. Juan Gris benennt die Mathematik als architektonische Seite der Malerei. Kubistische Arbeiten von Gris, Henri Laurens oder Giacomo Balla zeigen die Zerlegung der Realität in geometrische Bausteine, die mehrere Sichtweisen umfassende, simultane Darstellungen zulassen. Damit kehren sie der Zentralperspektive den Rücken, suchen aber zugleich verstärkt die Nähe zur Mathematik. Aus der gleichen Zeit stammt Kasimir Malewitschs bekanntes „Schwarzes Quadrat auf weißem Grund“ von 1915. Neben Beispielen der Suprematisten, Kompositionen von Mitgliedern der de Stijl-Bewegung, darunter Georges Vantongerloo oder Piet Mondrian, überführen verschiedene Bewegungsphasen der Futuristen in eine konkret-konstruktive Kunst mit ausschließlicher Verwendung reiner Formen.
Konkret arbeitende Künstler wollen sich von der äußeren Realität völlig loslösen und finden über die Mathematik geeignete Zugänge und Betrachtungsweisen. Max Bill beispielsweise räumt der Mathematik einen gebührenden Stellenwert in seiner Kunst ein. Er hält es für möglich, eine Kunst weitgehend aufgrund mathematischen Denkens zu entwickeln. Die Ausstellung zeigt mit seiner 1935 bis 1938 geschaffenen Arbeit „quinze variations sur un mime thème“ eines seiner frühen Schlüsselwerke der Konkreten Kunst, in denen er ein gleichseitiges Dreieck in ein gleichseitiges Achteck unter Austausch von Farben und Formen bei gleichem Strukturprinzip umwandelt. Die einfache Form konkreter Konzepte inspirierte im 20sten Jahrhundert immer wieder zahlreiche Künstler, die in der Präsentation breiteren Raum mit Arbeiten von Paul Klee, Josef Albers bis hin zu Bruce Nauman oder Peter Weibel einnehmen. Von mathematischen Demonstrationsobjekten ließen sich nicht nur Naum Gabo oder Antoine Pevsner anregen, sondern auch Marcel Duchamp, Man Ray oder die von den Naturwissenschaften wie der Mathematik gleichermaßen inspirierten Surrealisten, wie Bilder von Max Ernst darlegen.
Einen deutlichen raumgreifenden Aspekt nimmt die von rund 120 Künstlern stammende Auswahl mit 300 Exponaten bei der Hinwendung zu den 1960er und 1970er Jahren, als die Beziehung zwischen Mathematik und Kunst ihren engen Ausdruck in formal stark reduzierten, meist seriellen und systematischen Arbeiten unter Verwendung geometrischer Primärstrukturen findet. Simple, klare Grundformen erobern die Räume. Carl Andre oder Sol LeWitt bedecken Böden und Wände mit klaren, regelmäßigen Strukturen. Donald Judd nutzt die Logik seiner strengen Plastiken zur Befreiung von allen Emotionen und Assoziationen. Judd verwahrt sich aber gegen die Verbindung seiner Werke mit mathematischen Formeln, da er beide Disziplinen völlig getrennt sieht. Willi Kopf stellt fünf exakte Holzkuben mit unterschiedlich aufgemalten Felderungen zur Schau und Stanislav Kolíbal eine scheinbar unfertige Miniarchitektur aus schwarzem Eisenblech. Lyrisch nimmt sich dann Hartmut Böhms Linie aus schwarz lackiertem Stahl von 1982/83 aus, die nur ein wenig von der Wand wegsteht. Sie heißt auch „Lineare Progression gegen unendlich mit 30°“.
Die Ziffer als Produkt der Kommunikation wie auch der ästhetisch abstrakten Darstellungsform ist ein weiterer Einzelaspekt, der etwa in den Gemälden Roman Opalkas mit streng numerisch ansteigenden Zahlenreihen seinen Ausdruck findet. Unterschiedlichen Inhalten oder Deutungsoptionen von Zahlen in der Kunst gehen Hans Arp oder Brigitte Kowanz in ihrem Werkschaffen mit stark immanenter Sinnlichkeit nach. Sogar der Arte Povera-Künstler Mario Merz setzt das mathematische Vokabular in Form von Neonröhren in seinen Installationen ein, die sich aus Fibonacci-Reihen wachsenden Additionen ergeben. Auch die Konzeptkunst kommt zu Wort, etwa mit Hanne Darbovens Rauminstallation „Ein Jahrhundert (Bücherei)“ aus einem Regal Stehordner und 100 gerahmten Zahlenblättern. Schönheit und Rätselhaftigkeit überraschen in einer zunächst als trocken, unspektakulär und still vermuteten Ausstellung. Den Besucher erwartet jedoch eine wissenschaftlich und konzeptionell anspruchsvolle Zusammenstellung mit überzeugender Werkauswahl in gelungenen Korrespondenzen, die ein kompaktes Thema intelligent vermitteln.
Die Ausstellung „Genau und anders. Mathematik in der Kunst von Dürer bis Sol LeWitt“ läuft vom 29. Februar bis zum 18. Mai. Das Museum Moderne Kunst Wien ist montags bis sonntags von 10 bis 18 Uhr, donnerstags zusätzlich bis 21 Uhr geöffnet. Der Eintritt beträgt 9 Euro, ermäßigt 7,20 Euro bzw. 6,50 Euro. Der Katalog zu der Ausstellung kostet 29 Euro. |