Niemand hat unsere Vorstellungen von moderner Architektur so stark geprägt wie Le Corbusier. Der Mann mit der markanten schwarzen Hornbrille gilt trotz berechtigter Kritik als einer der bedeutendsten Baumeister des 20sten Jahrhunderts. Über 60 Jahre hinweg arbeitete er an einem facettenreichen Œuvre, das geprägt war von der Faszination für die moderne Großstadt, Interesse am Mediterranem und dem Orient, der Hinwendung zu organischen Formen sowie dem Hang für aktuellste Technologien und Medien. Dabei hatte Le Corbusier steht ein ganzheitliches Verständnis von Architektur, in das viele Disziplinen eingebettet sind, im Blick. Er arbeitete als Maler, Designer, Bildhauer, Grafiker, Schriftsteller, Filmedreher, Fotograf, Urbanist. Als erster Architekt verstand er die professionelle Nutzung von Massenmedien; kein anderer seiner Zunft publizierte zu Lebzeiten 79 Bücher. Hinzu kamen spektakuläre Werbefotos, Fernsehsendungen, Radiobeiträge, Filme. Auf all dies wirft eine multimediale, konzentrierte Schau in Vitra Design Museum im Weil am Rhein zum 120jährigen Geburtstag Le Corbusiers einen Blick aus jetziger Sicht, 20 Jahre nach der letzten Retrospektive.
Geboren wird Le Corbusier als Charles-Édouard Jeanneret am 6. Oktober 1887 in La Chaux-de-Fonds im Schweizer Jura. Mit 15 Jahren beginnt er eine Lehre als Graveur-Ziseleur. Vier Jahre später erbaut er sein erstes geplantes Haus. Auslandsreisen führen ihn durch Italien, Österreich und Frankreich, wo er bei avantgardistischen Architekten Praktika absolviert, darunter Auguste Perret in Paris, Josef Hoffmann in Wien und Peter Behrens in Berlin. In und um La Chaux-de-Fonds errichtet er Villen im rustikalen Reformstil; 1912 eröffnet er hier sein eigenes Architekturbüro. 1915 findet seine Entwicklung des „dom-ino“-Hauses weite Beachtung. Es besteht aus einem einfachen, serienmäßig aus Standartelementen produzierbaren Eisenbeton-Stahlskelettgerippe, das unabhängig vom frei gestaltbaren Grundriss existiert.
Dann geht alles Schlag auf Schlag: Nachdem Le Corbusier die ersten 30 Lebensjahre in der Schweiz zubrachte, sechs teils luxuriöse Privathäuser, ein Kino, zahlreiche elegante Inneneinrichtungen kreiert hatte, entscheidet er sich für Frankreich. 1917 zieht er nach Paris in das derbe Ambiente eines spätbarocken Mietshauses. 1920 erfindet er für sich das Pseudonym „Le Corbusier“. Die Serie frei stehender Einfamilienhäuser, die er in den 1920er Jahren realisiert, verschafft ihm innerhalb weniger Jahre breite Reputation. Hier kann der Architekt die Grundzüge seiner Wohnarchitektur aus Pilotis, Dachterrassen, frei arrangierten Grundrissen, horizontal gestreckten Fenstern und frei gestaltbaren Fassaden umsetzen. Seine Bauten sind über der Landschaft schwebende Skulpturen, die aus selbst tragenden Stahlskelettbauseisen entspringen.
An einem der ersten Projekte, dem Pariser Privathaus für den Bankier Raoul La Roche, das zugleich Privatmuseum und eine Art Musterwohnung des Kunstsammlers ist, lotet Le Corbusier zwischen 1923 bis 1925 Inszenierungen und Techniken aus. Heute residiert hier die Fondation Le Corbusier, die den Nachlass des Architekten betreut. Zwei standartisierte Wohnmaschinen aus nur formal begründbaren Details erstellt Le Corbusier 1927 für die Stuttgarter Weißenhofsiedlung; ein berühmt gewordenes, puristisches „Raumschiff auf Stützen“ folgt 1928 mit der Villa Savoye in Poissy, einem aufgestelzten weißen Kubus mit geschlitzten Fenstern und flachem Dachgarten.
Im Jahr 1929 präsentiert Le Corbusier zusammen mit seinem Vetter, dem für die Produktion zuständigem Partner Pierre Jeanneret, mit dem er von 1922 bis 1940 das gemeinsame Architekturbüro in Paris betreibt, neu entwickelte Stahlrohrmöbel: Den Drehstuhl LC 7, den Drehhocker LC 8, sowie den heute noch beliebten Sessel LC 2 und die Liege LC 4 im „Salon d’Automne“ in Paris. Frühe Exemplare all dieser Stücke, deren Kürzel für den Architektennamen stehen, versammelt die Ausstellung.
Wie so häufig stellen auch bei Le Corbusier Ausstellungsarchitekturen nicht nur Werbung, sondern auch Experimente dar, die später zu Schlüsselbauten neuer Architektur aufsteigen. Aufsehen erregt sein „Pavillon de l’Esprit Nouveau“ auf der „Exposition des Arts décoratifs“ 1925 in Paris, in dem er seine städtebaulichen Visionen vorstellt. Dazu gehört der Plan „Voisin“, ein radikal utopischer Masterplan für Paris, dessen Rekonstruktion einer der Höhepunkte der Ausstellung ist. Vorweggenommen sei hier schon der Verweis auf Le Corbusiers innovativen „Pavillon des temps nouveau“ auf der Pariser Weltausstellung 1937 und den einprägsamen Philips-Pavillon auf der in Brüssel 1958 mit der markanten hyperbolisch-paraboloiden Zeltdachkonstruktion, die die Retrospektive als begehbares Modell bereichert und der die Nähe zur heutigen computergenerierten Architektur offenbart.
Um 1930 beginnt ein neuer Abschnitt. Le Corbusier bezieht in der Pariser Rue Nungesser-et-Coli ein Penthouse mit eher bürgerlichem Mobiliar, in dem er bis zum Lebensende wohnt. Im gleichen Jahr wird er französischer Staatsbürger. Die 1930er Jahre charakterisieren eine schlechte Auftragslage. Le Corbusier plant viel, verfasst Schriften, hält Vorträge in aller Welt, so auch in Brasilien, wo er Oscar Niemeyer trifft, nimmt an Wettbewerben teil, darunter an dem für den neuen Sowjetpalast in Moskau. Ferner beschäftigen ihn städtebauliche Neuplanungen für Algier, die einem „architektonischen Bombardement“ gleichen. Von der Mitte der 1930er Jahre bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges realisiert er über zehn Jahre lang kein Gebäude mehr. 1940 muss er nach der Besetzung von Paris durch deutsche Truppen das Büro schließen und in die Pyrenäen flüchten. Im August 1944 kann er es wieder eröffnen; die dritte Schaffensphase beginnt.
Aufbruchstimmung signalisieren seine viel versprechende Entwürfe für das neue Uno-Hauptquartier in New York, ein gläsernes Hochhaus mit fensterlos durchgehenden Wänden an den Schmalseiten, das ab 1950 nicht von ihm, aber im wesentlichen nach seinen Entwürfen gebaut wird. 1947 bis 1952 kann er dann die erste Ausgabe der „Unité d’Habitation“ in Marseille errichten, ein stark ideologisch befrachtetes, sozial ambitioniertes, politisch kontroverses Projekt. Der scheibenförmige, vielgeschossige Wohnblock aus roh belassenem Stahlbeton steht auf Pilotis und enthält ineinander greifende Wohneinheiten samt zweistöckigen großen Wohnräumen für insgesamt 1.600 Personen. Geschäfte und ein Kindergarten sind mit eingeplant.
Die Ausstellung bietet neben einem originalen Prototyp der offenen, kompakten Einbauküche zu der „Unité d’Habitation“ auch einen Film aus der Erbauungszeit. Besondere Beachtung finden hier die imponierenden, plastisch durchgestalteten Belüftungstürme und Schachtaufbauten auf der Dachterrasse mit ihren Assoziationen an Festungen. Sie demonstrieren Le Corbusiers Hinwendung zum plastischen Gestalten. Weitere Prototypen dieses Wohnkomplexes entstanden in Nantes, Berlin und Firminy.
Ins Jahr 1950 fällt auch der Baubeginn der Kapelle Notre Dame du Haut bei Ronchamp in den Vogesen, ein Schlüsselbauwerk im „Œuvre plastique“, eine Synthese der Künste, die zwischen Architektur und bildender Kunst pendelt. Neben Modellen und Ansichten präsentiert die Schau Objekte, die den Architekten inspiriert haben: Schnecken, Muscheln, Steine, Formgeburten des Meeres, begleitet von Gemälden Le Corbusiers, die stilistisch zwischen denen seiner Malerfreunde Pablo Picasso, Robert Delaunay oder Fernand Léger hin- und hergerissen sind. Le Corbusier wendet sich bei der Kapelle von tradierten Formen des Glaubens ab; der Grundriss zeigt dies am deutlichsten. Der Bau wird zur Bühne, Effekte sollen überwältigen. Das von der Schale eines Krebses inspirierte, ausschwingende Betondach ruht nicht auf den Mauern, auch nicht, wie es der Anschein erweckt, auf den dazwischen angeordneten Lichtschlitzen, sondern auf unscheinbaren kleinen Stützen.
Neben dem unverkennbaren Echo auf Piet Mondrian, Naum Gabo oder Antoine Pevsner dienen Naturformen zur Kreation einer surrealen Effektarchitektur, die die Plastizität der 1930er Jahre ausschweifen lässt. Ab 1950 weilt der Baumeister dann im indischen Chandigarh, für das er einen Masterplan ausarbeitet. Bis 1956 errichtet er hier den Gerichtshof, das Sekretariatsgebäude und das Parlamentshaus. Das Oberhaus markiert eine geneigte Pyramide, das Unterhaus die hyperboloide Form eines Kühlturmes. Erneut werden wieder orientalisch-japanische Einflüsse deutlich, wie es geometrische Durchdringungen oder Wirkungen des Lichteinfalls darlegen.
Die „Archiskulptur“ St. Pierre in Firminy, ein Kirchenprojekt in der Form eines Sichtbetonkegels, war eigentlich 1965 aufgegeben worden. Das Äußere birgt ein weites, höhlenartiges Innere. Ähnlich einer Augenbraue ist an einer Außenseite ein ausdrucksvoller Parabelbogen aufgesetzt. Das nicht als Kirche erkennbare, organoide-technoide Projekt wurde dann doch zwischen 2003 und 2006 vollendet. Es ist das letzte realisierte Projekt Le Corbusiers, der bereits 40 Jahre zuvor, am 27. August 1965 beim Baden im Meer verstirbt. Die Modelle von St. Pierre bilden den Schlusspunkt einer Vielzahl von Exponaten, darunter 80 Originalzeichnungen und -pläne, zahlreiche Originalmöbel, Kleinobjekte, Bücher, alte und neu angefertigte Modelle, Filme, 20 Originalgemälde und acht Skulpturen. Sie alle vermitteln nicht nur kompakt das Bild einer vergangenen Epoche. Sie gehen idealerweise eine einzigartige Kohärenz mit dem Museumsbau von Frank O. Gehry ein, der aus den Ideen eines begnadeten Meisters der Architekturgeschichte zu erwachsen scheint. Einen besseren Ausstellungsort kann man sich eigentlich nicht wünschen.
Die Ausstellung „Le Corbusier - The Art of Architecture“ ist noch bis zum 10. Februar im Vitra Design Museum in Weil am Rhein zu besichtigen. Geöffnet ist täglich von 10 bis 18 Uhr, mittwochs bis 20 Uhr. Der Eintritt beträgt 8, ermäßigt 6,50 Euro. Zur Ausstellung ist ein umfangreicher Katalog erschienen, der an der Museumskasse 79,90 Euro kostet. |