Am 15. Dezember 1907 erblickte Oscar Soares Filho in Leranjeiras, einem Stadtteil von Rio de Janeiro, das Licht der Welt. Später nahm er den Namen Niemeyer an, da sein mit fünf Jahren verwaister Vater von einem Onkel namens Niemeyer adoptiert worden war. Im Brasilien der 1930er Jahre klang ein deutscher Name einfach besser. Oscar Niemeyer ist der letzte lebende große Altmeister der modernen Architektur. Abgesehen von Louis Kahn (geb. 1901) und Eero Saarinen (geb. 1910) ist er der einzige unter den internationalen Starbaumeistern des 20sten Jahrhunderts, der – anders als etwa Frank Lloyd Wright, Walter Gropius, Ludwig Mies van der Rohe, Le Corbusier, Erich Mendelsohn, Alvar Aalto – nicht im 19ten Jahrhundert, sondern im 20sten geboren wurde. Er hat im Gegensatz zu allen anderen nicht nur nahezu das gesamte Jahrhundert durchlebt, sondern ist auch in das nächste vorgestoßen.
Dem nicht genug: Seit rund 80 Jahren arbeitet Oscar Niemeyer ununterbrochen als Architekt. Vor genau 70 Jahren, 1937, schafft er mit dem Bau einer Entbindungsstation in Rio de Janeiro sein erstes eigenständiges Projekt. Vorausgegangen ist das Architekturstudium von 1924 bis 1929 an der Nationalen Kunstschule in Rio. Bis Ende der 1930er Jahre arbeitet Niemeyer im Büro des Architekten Lúcio Costa. Hier wirkt er an der Projektbearbeitung für das neue Erziehungsministerium mit, in Folge dessen er Le Corbusier kennen lernt. Dessen Architektur sollte ihn inspirieren, keineswegs aber zur Nachahmung, vielmehr zur Weiterentwicklung anregen.
Schwungvolle Dachaufbauten, Piloti, Bögen legen greifbare Korrespondenzen offen. Doch Niemeyer findet zu einer spezifisch südamerikanischen Variante, resultierend aus dem Klima und der Mentalität der Bewohner. Bewegte, dynamische Rundungen und horizontale Sonnenschutzblenden werden rasch zu einem Erkennungszeichen seiner Bauten. Schlagartig internationale Anerkennung verschafft ihm der in Zusammenarbeit mit Lúcio Costa konzipierte Pavillon Brasiliens auf der Weltausstellung 1939 in New York. Wenige Jahre später tritt Niemeyer mit Le Corbusier in Konkurrenz, und zwar beim Wettbewerb um das Uno-Hauptquartier in New York. Doch keiner der beiden sehr ähnlichen Entwürfe erhält den Zuschlag; der Zwang zum egalitären Konsens lässt wieder mal nur den Durchschnitt zum Tragen kommen.
Der südamerikanische Nationalheilige unter den Architekten wird vor allem mit einem Großprojekt in Beziehung gebracht, dass alle anderen der mittlerweile über 500 Bauten weit zu überstrahlen scheint, nämlich der Neubau der Hauptstadt Brasilia. Sie demonstriert vorbildhaft, wie gute Architektur zustrande kommt. Über seine Mitarbeit am Erziehungsministerium 1936 in Rio kommt Oscar Niemeyer mit örtlichen politischen Entscheidungsträgern in Kontakt, die später Karriere machen werden. Darunter befindet sich Juscelino Kubitschek, der kurz nach seiner Wahl zum Präsidenten Brasiliens Niemeyer 1956 persönlich aufsucht, um ihm die Leitung für Planung und Bau der neuen Hauptstadt zu übertragen.
Oscar Niemeyer überlässt nichts dem Zufall. Beim städtebaulichen Wettbewerb siegt – welch Wunder – der Entwurf seines früheren Lehrmeisters und Arbeitgebers Lúcio Costa. Dieser ist für das kraftvolle architektonische Gesamtkonzept und städtebauliche Gerüst verantwortlich, in das dann Niemeyer seine Solitärbauten staatstragend und wirkungsvoll einfügen soll. Sein stringentes Projektmanagement zielt auf die strikte Einhaltung des engen Zeitplanes. Genau vier Jahre nach dem ersten Spatenstich kann 1960 die Einweihung der neuen Hauptstadt stattfinden. Das kongeniale Zusammenwirken zwischen politisch gewollter und unterstützter Planung, Leitung und Zuständigkeit eines Architekten mit vertrauten Partnern sowie die präzise Terminwahrung führen im Ergebnis zur Reinheit und Spontaneität der architektonischen Aussage. Nichts ist verwässert; der formalen Freiheit ist Lauf gelassen. Oscar Niemeyer erkennt und nutzt die Chance.
Die neue Kapitale des dominierenden lateinamerikanischen Landes verbindet den Ausdruck von Leichtigkeit und lyrischer Stimmung mit Ansprüchen an gewollte Monumentalität. Dies gelingt durch den Einklang zweier Achsen: einer Monumentalachse mit aufgereihten Staats- und Kulturbauten Niemeyers sowie einer sie kreuzenden und gebogenen Achse mit den Wohnquartieren. Niemeyers Staatspaläste stellen heute Inkunabeln der Architekturgeschichte dar. Die Residenz des Präsidenten, der Alcorada-Palast mit seinen Umgängen und segelförmigen Stützen, wird zu den wichtigsten Bauten der modernen Architekturgeschichte gezählt. Sogar die Kathedrale mit dem grandiosem „Dornenkronendach“ entwirft der im katholisch-großbürgerlichem Milieu aufgewachsene, aber erklärte Atheist Niemeyer, dessen Engagement in der Kommunistischen Partei und für soziale Vorhaben ähnlich wie seine Architektursprache ein hohes Maß an unangepasster Eigenständigkeit unerstreichen.
Nach 1960 kehrt Oscar Niemeyer nach Rio de Janeiro zurück, baut unentwegt in Brasilien und vielen Ländern der Welt weiter, darunter in Frankreich, Italien, Israel. Unter den ausgeführten Bauten befindet sich auch ein Wohnblock im Berliner Hansaviertel im Rahmen der „Interbau“. Bis heute ist sein Schaffensdrang ungebrochen; täglich ist er in seinem Büro hoch über der Copacabana anzutreffen. Das gesamte Œuvre, vom Flughafen über Appartementhäuser bis hin zu Museen, vom Altar für die Papstmesse über Denkmäler bis hin zu Sportstätten, nicht zu vergessen seine Möbelentwürfe, glänzt von beeindruckender Eigenständigkeit und Flexibilität.
Die komprimierte Retrospektive im Deutschen Architekturmuseum in Frankfurt vermittelte letztmalig 2003 ein umfassendes Bild davon, wie der Oscar Niemeyer abseits populistischer Funktionalität über individuelle Formen Gebäude von ausnehmender Pracht gestaltet. Fantasievolle, fließende Kurvenwelten der tropisch schwungvollen Moderne sind auch als spektakuläre, demonstrative Abkehr von den dogmatischen Zwängen widernatürlicher rechter Winkel zu verstehen. Die gravitätische Leichtigkeit erzielt er über die volle Ausnutzung aller technischen Optionen des Werkstoffes Beton. Anspielungen auf die Weiblichkeit sind dabei zumindest nicht ausgeschlossen. Von 1928 bis zu ihrem Tod 2004 war Oscar Niemeyer 76 Jahre mit Annita Baldo verheiratet. Im November 2006 ehelichte er seine langjährige, über 30 Jahre jüngere Sekretärin Vera Lucia Cabreira. Da kann man wahrlich nur wünschen: ad multos annos!
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