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Tjorg Douglas Beer

Trains and boats and planes



Tjorg Douglas Beer, Fuck Revolution I, 2003

Tjorg Douglas Beer, Fuck Revolution I, 2003

„Why am I always on a plane or a fast train?“ Eine Frage, die sich Popstars à la Rufus Wainwright, Topmanager, aber auch viele Protagonisten des internationalen Kunstbetriebs stellen. Mit melancholischer Sehnsucht, cooler Professionalität oder schierer Neugier brachen und brechen immer wieder Künstler in fremde Weltgegenden auf. Die deutschen Expressionisten zog es bloß an die Ostseestrände der Kurischen Nehrung, Dieter Roth wählte zumindest zeitweilig Island als Rückzugs- und Arbeitsort, und auch die jüngere Künstlergeneration reizen kurze oder längere Arbeitsaufenthalte fern ihrer angestammten Reviere - sei es auf der griechischen Aussteigerinsel Mykonos, in der kanadischen Einsamkeit oder als P.S.1-Stipendiat in New York.



Auch den Hamburger Tjorg Douglas Beer, Jahrgang 1973, hat die Reisewut gepackt. Als Stipendiat des Vereins „Neue Kunst in Hamburg e.V.“ begibt er sich zur Zeit auf eine „Europäische Heimatkundetour“ der etwas anderen Art. Eine in kurze, intensive Trips aufgesplittete „desparate Europe tour“, so Beer, die ihn in die Pariser Banlieu, die Arbeiterviertel von Glasgow, in die spanische Sierra Nevada, nach Moskau, Warschau und ans Schwarze Meer nach Odessa führt. Doch das Rückfahrticket in den sicheren Hafen Hamburg hat er stets in der Tasche. Dort geht es dann zurück ins Atelier und auf Vernissagetour, um zu sammeln, zu ordnen, zu sortieren und zu arbeiten. „Ich wollte nicht ein halbes Jahr lang weggeschlossen sein“, stellt Tjorg Douglas Beer klar. Beer ist bekannt für seine extreme Umtriebigkeit und fast schon beängstigende Omnipräsenz im gut vernetzten Kunstbetrieb. Noch zu Hochschulzeiten, von 1999 bis 2004, betrieb er zusammen mit Tatjana Sarah Greiner und Sebastian Zarius den mittlerweile legendären Ausstellungsraum „Taubenstraße 13“ auf St. Pauli. Im zweiwöchigen Wechsel fanden dort Ausstellungen statt. Die Ära Taubenstraße ist abgeschlossen.

Nebenbei betreut Beer auch noch die aus Schenkungen von Taubenstraßen-Künstlern bestehende, bemerkenswerte „Sammlung Taubenstraße“ mit Arbeiten vieler Hamburger Jungkünstler, aber auch von Stars wie Jonathan Meese, Daniel Richter, Raymond Pettibon oder Cosima von Bonin. Kunst macht Spaß, aber auch viel Arbeit. Warum soll man da nicht einfach mal für ein paar Tage in die Wüste gehen? Jean Dubuffet schrieb im März 1949 aus einer kleinen Oase im tiefsten Süden Algeriens einen Brief an die reiche, in Paris lebende Amerikanerin und Salonbetreiberin Florence Gould: „Warum reisen Sie nicht? - Reisen Sie wie ich in das Land der Fliegen, in das Land der wochenlangen Sandstürme, in das Land mit dem Backofenklima, in das Land der Lüge, der Honiggrimassen und der raffinierten Berufsbettelei? Ins Land der Null und der großen Nullifizierung?“

Tjorg Beer reiste jedoch nicht wie der französische Hauptvertreter der Art brut für Monate in die Abgeschiedenheit der nordafrikanischen Sahara, um in bewusster Abgrenzung zum europäischen Großstadtleben neue existenzielle Erfahrungen zu machen. Beers Trip in die Sierra Nevada im Frühjahr 2005 war dafür intensiv, kurz und produktiv. Vor der Kulisse einer atemberaubenden Landschaft mit abgestorbenen Bäumen, verlassenen Holzhütten und kargen Hügelketten drehte Beer ein spannungsgeladenes Kurzvideo mit quälend langen Einstellungen im Stil des 1968 entstandenen Sergio Leone-Westernklassikers „Spiel mir das Lied vom Tod“. Zur obligatorischen Musik von Ennio Morricone treffen sich der Künstler selbst als halb verdurstender Pistolero und ein roboterartiges, in bedrohlicher Lauerstellung ausharrendes Wesen namens „Montezuma“ zum finalen Shootout. „Es ist immer fünf vor zwölf“ lautet die Losung, und das Duell in der Wüste endet natürlich tödlich - für beide.

Der katzenäugige Roboter, der in Tjorg Beers Video seinen großen Auftritt hat, entspricht einem hybriden Skulpturentyp, der seit einiger Zeit häufiger bei ihm auftaucht: etwas ungelenke, mitunter kindlich wirkende Figuren aus „armen Materialien“ wie schwarzer Plastikfolie, Gestrüpp und Styropor. Aus einigen dieser Gebilde stoßen ab und zu Nebelschwaden hervor, andere stehen wie merkwürdig mutantenartige Wächter im Mittelpunkt größerer Installationen wie zuletzt während einer Gruppenausstellung in Venezuela. Beers aus einfachen, zum Teil vorgefundenen Dingen konstruierte Installationen, seine trashigen, ironischen Skulpturen und seine oftmals großformatigen, disparaten Collagen aus Abdeckplanen, Klebestreifen, Plastik- und Papierelementen und Bemalungen sind voller Brüche und nur partiell decodierbar. Sie geben keinen roten Erzählfaden vor, sondern enthalten nur kurze, assoziative Hinweise zu einer möglichen Narration. Störrische Momente und gewollte Unsorgfältigkeiten, Ansätze von Zerstörung und Lücken, Dekonstruktionen und schäbige Oberflächen sind Kennzeichen einer Wahrnehmung von Welt, die einen bewussten Gegenpol zur klaren Lesbarkeit einer realistisch geprägten Geschichtenerzählerkunst setzt.

Die kleine Arbeit „Fuck Revolution“ von 2003 vereint all diese Elemente: Mit Klebeband und Filzstift auf Pappe konstruiert Beer hier eine Art apokalyptischer Landschaft voller Zerstörung, aber auch garniert mit eher komischen Zutaten. In der rechten Bildhälfte steht ein von der Sonne beschienener silberner Container ohne Fenster, der über eine Antenne offenbar mit einer Kommandozentrale verbunden ist. In einer Art automatisiertem Tötungsapparat werden wie in einem Computerspiel kleine graue Männchen, die sich brav der Reihe nach anstellen, per Lift auf eine sprungturmartige Plattform befördert, von wo aus sie eins nach dem anderen in einen Swimming Pool hinabstürzen. Im blutrot gefärbten Wasser verliert sich ihre Spur.

Ein unheimliches Vernichtungslager? Vielleicht. Über das Bild verteilte Liegestühle, ein kleiner Hund und ein Sonnenschirm lassen aber auch viel harmlosere Interpretationen zu. Farblich ist die Arbeit äußerst reduziert: Beer verwendet neben Rot und Silber nur noch Schwarz und Weiß. Der obere Bildrand wird begrenzt durch ornamentale Kringel in Rot, während unten eine Art weißer Jägerzaun mit lanzenartigen Spitzen das Bild begrenzt. Kringel und Spitzen sind beide nur halb ausgemalt - um Perfektion geht es hier nicht.

„Lange Zeit habe ich für das Bilderherstellen keine für mich stimmige Übersetzung finden können und hatte für mich das Gefühl, dass es zu konstruiert ist“, sagt Beer, der unter anderem bei Werner Büttner studiert hat, und will doch Szenarien schaffen, die „einerseits den Schrecken des Alltags und die Realität abbilden und gleichzeitig Leichtigkeit und Freude vermitteln.“ Es geht ihm um eine „Konsequenz im Umgang mit den Dingen“ und darum, eine allzu ernsthafte Inhaltlichkeit spielerisch wieder aufzulösen. Auch für Tjorg Beer gilt der hintergründig-ironische Satz von Nam June Paik: „When too perfect, lieber Gott böse.“ Beer formuliert es etwas anders: „Zum Sprechen gehören Stottern und Pausen. Fehler erwecken eine Sache erst zum Leben. Erst dann wird eine Sache intensiv. Es geht darum, Fehler zuzulassen, ihnen Platz einzuräumen. Es geht nicht darum, Fehler zur Methode zu machen.“

Tjorg Beers spielerisch improvisierte, pragmatisch offensive Herangehensweise nach der Devise „Handeln und Tatsachen schaffen, bevor die Chance vertan ist“, steht in der Tradition des Homo Ludens, eines Gesellschaftstypus, den der niederländische Kulturphilosoph Johan Huizinga in seinem Buch „Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel“ von 1939 beschreibt. Hierin veranschaulicht Huizinga, dass sich die kulturellen Systeme aus spielerischen Verhaltensweisen und eben auch aus selbstorganisierten Formen entwickeln und sich über eine Ritualisierung im Laufe der Zeit institutionell verfestigen. Genau diesen Ansatz verfolgt Beer nicht nur in seiner Tätigkeit als Ausstellungsmacher, Sammlungsgründer und Networker, sondern eben auch als Künstler. Dieses Selbstverständnis findet seinen literarisch-philosophischen Widerhall ebenfalls in der „Ästhetischen Erziehung“ von Friedrich Schiller, wo es im 15. Brief heißt: „...und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“

Doch jetzt wird aus dem Spiel plötzlich Ernst. Auf der Art Cologne ist er im New Talents-Sektor vertreten. Und bis zum 27. November ist im Kunsthaus Hamburg seine erste große Einzelausstellung mit dem Titel „Troja Boja - Morgentodde!“ zu sehen. Das Plakat zeigt eine mit blauem Edding bekritzelte „Künstlerleiche“. Selbstreferenz als Pose? James Joyces biografisch geprägter, 1916 veröffentlichter erster Roman „Ein Porträt des Künstlers als Junger Mann“ endet mit den staccatoartigen Tagebuchnotizen des Ich-Erzählers, der sich im Leben angekommen fühlt: „Willkommen, Leben! Als Millionster zieh ich aus, um die Wirklichkeit der Erfahrung zu finden und in der Schmiede meiner Seele das ungeschaffene Gewissen meines Volkes zu schmieden.“ Tjorg Beer ist bei all seiner spielerischen Haltung, dem Treibenlassen, Probieren, Weglassen und Mut zum Scheitern immer auch Realist: „Ich komme zu meinen Bildern über eigene Erinnerungen, Erlebnisse und dem Umgebensein von allgegenwärtigem Grauen und Terror, der einem begegnet“, sagt er.

Das Taxi fährt zum Hamburger Hauptbahnhof. ICE nach Berlin, Abflug nach Moskau. Ein paar Tage nur. Doch auch hier trifft er wieder viele Leute, besucht Künstler, sammelt Adressen. Für die nächste Zeit heißt es für Beer immer wieder, „on the road“ sein wie bei Jack Kerouac, wie bei den Romanfiguren Dean und Sal, die, frisch angekommen in Mexiko, auf Abenteuerjagd gehen und nur nach vorn schauen: „Ein letzter Blick auf Amerika über die heißen Lichter der Rio-Grande-Brücke hin, und wir kehrten ihm Hinterteil und Stoßstange zu und sausten ab.“



29.10.2005

Quelle/Autor:Kunstmarkt.com/Nicole Büsing

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