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Georg Baselitz und der Gegenstand

Wandlungen der Perspektiven (?)



„Das Charakteristikum meiner Bilder“, so Baselitz, „war und ist immer der Gegenstand, und der hatte oft mit meiner Biografie zu tun - Personen, Landschaften, Ereignisse“. Dieser Gegenstand hat ihn bereits auf seiner ersten Einzelausstellung 1963 in der Galerie Werner und Katz mit einem Schlag bekannt gemacht. Die Kontroverse, die um provokanten Arbeiten wie „Die große Nacht im Eimer“ (1962/1963) und „Der nackte Mann“ (1962) im Berlin der 60er Jahre entsteht, rückt den damals 25jährigen in den Focus des Kulturgeschehens.


Dieser Gegenstand hat ihn bereits auf seiner ersten Einzelausstellung 1963 in der Galerie Werner und Katz mit einem Schlag bekannt gemacht. Die Kontroverse, die um provokanten Arbeiten wie „Die große Nacht im Eimer“ (1962/1963) und „Der nackte Mann“ (1962) im Berlin der 60er Jahre entsteht, rückt den damals 25jährigen in den Focus des Kulturgeschehens.

Hans-Georg Kern kommt 1938 im sächsischen Deutschbaselitz zur Welt und nimmt später den Künstlernamen Baselitz in Anlehnung an seinen Geburtsort an. In der ehemaligen DDR aufgewachsen, studiert er an der Kunstakademie in Ostberlin. Schon nach zwei Semestern verweist die Hochschule Georg Baselitz wegen „gesellschaftspolitischer Unreife“. Kurz danach zieht er nach Westberlin, wo er sein Kunststudium 1964 an der Staatlichen Hochschule für Bildende Kunst abschließt.

Mit seinen gegenständlichen Gebilden steht Baselitz` Frühwerk in Opposition zur gängigen Kunstströmung, die vom Informel, Tachismus und von Abstraktion geprägt ist. Die menschliche Figur ist zentrales Bildthema. Baselitz entlädt in seinen Arbeiten seine aufgestaute aggressive Expressivität, die er an der Ostberliner Akademie nicht ausleben durfte: abgehackte Bein- und Fußstümpfe, einzelne Körperteile sowie amorphe Organismen mit sexuellen Attributen. Schmutzige Farben und quallig-zerklumpte Formen unterstreichen die Aufdringlichkeit von Baselitz` Gestalten und Gegenständen. Der Künstler bricht gesellschaftliche Tabus, indem er pubertäre Phantasien und „agressiv-obszöne“ Körperlichkeit zu seinem Bildthema macht. Baselitz entzieht sich mit seiner explizit groben Bildsprache und seiner dunkel-erdigen Farbpalette der mondänen Farbigkeit der amerikanischen Popszene. Seiner Außenseiterrolle ist sich der Provokateur Baselitz durchaus bewusst. Deshalb setzt er sich vornehmlich mit solchen Künstlern auseinander, deren Werk sich vor dem Hintergrund der Andersartigkeit entwickelt hat. So widmet der junge Maler sich Prinzhorns Publikationen über die „Bildnerei der Geisteskranken“ und zitiert Michail Wrubel oder Edvard Munch.

Die ab 1966 entstehenden Frakturbilder, begründen mit ihren horizontalen Abschnitten und einzeln versetzten Segmenten eine neue Präsentation des Gegenstands: Baselitz „zerstückelt“ den Gegenstand regelrecht und zerpflückt ihn zu Fetzen. Schließlich „puzzelt“ der Künstler die separierten Fragmente in einer eigenwilligen Dynamik wieder zusammen. Baselitz emanzipiert seine Malerei vom reinen Inhalt und lenkt die Wahrnehmung auf die Erscheinungsweisen der Gegenstände, ob nun bewegt oder ruhig, rauh oder glatt. Die Frakturbilder sind Vorboten der „Welt auf dem Kopf“, die Ende der sechziger Jahre die Kunstwelt zum Kopfstehen bringt.

Eine Welt auf dem Kopf

Die Frage nach dem „warum“ der umgeworfenen Perspektive ist nach der ersten Ausstellung der umgedrehten Bilder in der Kunstwelt virulent geworden. Die Erklärung, die Baselitz gibt ist schlicht: „Die Umkehrung des Motivs im Bild gab mir die Freiheit, mich ausschließlich mit malerischen Problemen auseinander zusetzen.“ Diese Antwort scheint zunächst unbefriedigend. Die Umkehrung der Gegenstände ist weder eine Provokation noch ein spontaner Gag. Sie ist vielmehr eine Konsequenz aus den bisherigen Arbeiten. Indem der Künstler sich vom Ausgangspunkt der Realität emanzipiert, kann er sich im Malprozess ganz auf Form, Farbe und Spannung konzentrieren. Baselitz suggeriert dem Betrachter, dass es bei der Rezeption seiner Kunst auf das „wie“ ankommt, nicht auf den Inhalt, das „was“.

Die Entwicklung von Baselitz Bildgegenständen hat sich in Brüchen vollzogen, von denen die Umkehrung der Motive für den Betrachter am gravierendsten war. Dies verleitet leicht dazu, die Entwicklung vor 1969 als eine Periode zu begreifen und die danach als Einheit. Im Hinblick auf Baselitz’ Verhältnis zum Gegenständlichen ist sein Werk Schwankungen unterworfen. Phasen großer Gegenstandsnähe wechseln mit Phasen wachsender Distanzierung. Der Entwicklung in Brüchen wird man erst dann näherkommen, wenn man sie als ein Thema begreift, dass einem ständigen Wachstum, einer Zerstörung und schließlich einer Neufindung unterliegt.

Zunächst konfrontieren die Motive in ihrer eindringlichen Radikalität den Betrachter in seinem „Schamempfinden“. Schließlich findet eine Zerlegung, ein Verschieben des Gegenständlichen statt, das dann neu zusammengesetzt wird. Durch die Umkehrung der Motive erfolgt sozusagen eine Ruhigstellung; der Gegenstand soll unsere Aufmerksamkeit nicht ablenken und doch alles durchdringen. Deshalb bedient sich Baselitz einfacher aber keineswegs banaler Motive: Landschaften, Akte, Portraits oder Tierdarstellungen.

Sinnliche Gestaltungsmethoden

Um die sinnliche Wahrnehmung des Malaktes zu steigern, beginnt Baselitz ab 1972 mit den Fingern zu malen. Bilder wie „Fingermalerei-Adler“ und „Fingermalerei-Interieur“ dokumentieren Baselitz Hinwendung zur archaischen Methode. Er sucht den unmittelbaren Kontakt zur Farbe. Gegen 1980 beschäftigt Baselitz sich mit der Skulptur, in der er den Gestaltungsprozess als eigenständiges Ausdrucksmoment betont. Das entscheidende Thema sind Körper; die Figuren fungieren als Beispiel einer inneren Haltung oder als Träger einer Empfindung. In Skulpturen wie „Der rote Mann“ kommt die Faszination für das Ursprüngliche zum Ausdruck. Georg Baselitz selbst beschreibt diese Faszination mit den Worten: „Die Skulptur ist ein Ding wie ein Wunder. Sie ist aufgebaut, ausgestattet, gemacht mit Willkür nicht als das Zeichen der Gedanken, sondern als Ding in den Grenzen der Gestalt.“ Die bisher zweidimensionalen Bildgegenständen und Figuren nehmen dreidimensionale Formen an und werden „greifbar“.

Gleichzeitig zu den Skulpturen entwirft Baselitz Bilder wie „Orangenesser“ und „Glastrinker“. Die Bildgegenstände scheinen hierbei wie aus der Farbe herausmodelliert: intensives Rot und leuchtendes Gelb vermitteln expressive Lebendigkeit. In Baselitz` Arbeiten aus den frühen 90ern kommunizieren Gegenstand und Grund in anderer Weise: in „Bildsechzehn“ schaffen krellbunte Farbfäden auf schwarzem Grund ein Geflecht, aus dem sich die Figuren entwickeln.

Konfrontation mit der Vergangenheit

Mit den 1999 für das Reichstagsgebäude konzipierten Bildern beschreitet der Sechzigjährige neue Wege in seinem Oeuvre. Baselitz beschäftigt sich mit seiner eigenen Vergangenheit und dem damit verbundenen Sozialistischen Realismus. Er entkleidet Isaak Isaak Israilewitsch Brodskis „Lenin im Smolny“ und stellt ihn auf den Kopf. Anlass für die Auseinandersetzung mit seiner DDR-Vergangenheit war der Besuch bei der Gauk-Behörde: „Die Lektüre dieser Papiere hat mich sehr gerührt. Sie erinnerte mich daran, wie mies diese Zeit war, (...) in der man Dinge hätte tun müssen, die man heute nicht mehr nachholen kann, die erledigt sind. Was ich heute malerisch versuche, ist eine Art Wiedergutmachung.“

Nicht nur inhaltlich beschreitet Baselitz „Neuland“, sondern auch formal. In dem großformatigen Werk „Friedrichs Frau am Abgrund“ fungiert die Figur als Bildrahmen und als farbiges Hauptmotiv. Indem der Gegenstand das Bild wie eine Bordüre kreisförmig umschließt, steht er nicht nur kopfüber: die Figur ist im Bildzyklus fallend, aufsteigend und liegend zu sehen. Auf diese Weise setzt Baselitz sich gewissermaßen über seine eigene Welt auf dem Kopf hinweg. Der Gegenstand als Bordüre ersetzt den Rahmen. Er grenzt das Bild gegen die mächtige Architektur des Reichstages ab und macht es selbständig.

Dieses letzte Beispiel verdeutlicht, wie vielseitig Baselitz den Gegenstand in seinem Oeuvre einsetzt, welche Entwicklung das Gegenständliche durchläuft. Man darf also auf Perspektiven der „baselitzschen“ Gegenstandswelt im neuen Jahrtausend gespannt sein.



26.09.2000

Quelle/Autor:Kunstmarkt.com/Christine Bretz

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