Oskar Kokoschka (1886-1980) war ein leidenschaftlicher Zeichner. 5.000 bis 7.000 Blätter, so schätzt man, umfasst sein Nachlass. „Neben Picasso gibt es wohl kein Werk im 20. Jahrhundert, das sich so lange der Zeichnung widmet wie das von Oskar Kokoschka“, betont Heinz Spielmann. Der künstlerische Leiter des Bucerius Kunst Forum in Hamburg ist ein ausgewiesener Kenner des Werks von Kokoschka, kannte ihn persönlich und wurde sogar von ihm in einer Zeichnung porträtiert. Seit dem Wochenende wird in einer Auswahl von rund 200 thematisch geordneten Blättern das zeichnerische Werk aus sieben Jahrzehnten erstmals in einer systematischen Retrospektive präsentiert.
Porträts, Reiseskizzen, Entwürfe für Bühnenbilder und Fresken, Zeichnungen nach klassischen Bühnenstücken, Handzeichnungen auf fragilen Fächern, Aktzeichnungen und Bewegungsstudien des weiblichen Körpers - neben den großen Gemälden blieb Oskar Kokoschka mit Ausnahme einer kurzen Pause von 1923 bis 1931 stets der kleinen Form treu.
Ein prägendes Erlebnis für den jungen Künstler war die Begegnung mit der Wiener Gesellschaftsdame und Witwe des Komponisten Gustav Mahler, Alma Mahler, die seine Geliebte wurde. Während der zweijährigen, intensiven Liebesbeziehung entstanden Porträts, Zeichnungen während einer gemeinsamen Italienreise und Papierfächer mit zarten Miniaturzeichnungen, die er Alma zum Geburtstag oder zu Weihnachten schenkte. Diese sind als ausgefallene Liebesbriefe zu verstehen mit anspielungsreichen Geschichten und kleinen Szenen. Kokoschka schrieb: „Meine Fächer sind Liebesbriefe in Bildersprache.“ Auf ihnen thematisiert er „den Spannungsbezirk von Ich und Du, von Mann und Weib“ (Kokoschka).
Nach der schmerzhaften Trennung meldete sich der gedemütigte Maler freiwillig an die Front des Ersten Weltkrieges, um dort sein Leben zu verlieren. Eine schwere Verwundung jedoch überlebte er. Doch die Liebesverwundung wirkte stärker nach als die Kriegsverletzung. Kokoschka ließ eine lebensgroße Puppe nach dem Abbild von Alma herstellen und zeichnete fortan diese.
Oskar Kokoschka liebte auch das Reisen. „Ich habe viele Länder besuchen können, von denen ich vorher keine Ahnung gehabt habe. Es war das Erlebnis einer geistigen Welt“, resümiert er. Stets im Reisegepäck: Skizzenbuch, Zeichenblock und Farbstifte. Marokkanische Fischer, die Bucht von San Marco, Ansichten von Florenz, Mandelbäume in Apulien - aber auch immer wieder Blicke auf den Hamburger Hafen. Spontan, schnell und aus dem Augenblick und der Situation heraus entstanden markante Zeichnungen in schneller Abfolge.
Malen und Zeichnen waren für ihn eine „Schule des Sehens“, aber auch ein Mittel zur direkten und unmittelbaren Teilhabe am Leben und an außergewöhnlichen, inspirierenden Augenblicken. Den Schülern seiner Salzburger Sommerkurse schärfte er ein, „auf Erlebnisse aufzupassen“ und „die Augen aufzureißen“.
Die Ausstellung „Oskar Kokoschka. Erlebnis des Augen-Blicks. Aquarelle und Zeichnungen“ ist bis zum 5. Februar 2006 zu sehen. Das Bucerius Kunst Forum in Hamburg täglich 11 bis 19 Uhr geöffnet; am Heiligabend bleibt geschlossen. Der Eintritt beträgt 5 Euro, ermäßigt 3 Euro und am Montag gilt ein einheitlicher Eintrittspreis von 2,50 Euro. Der 192seitige Katalog ist für 19,90 Euro im Hirmer Verlag erschienen.