Kurz vor Weihnachten wird der Ausstellungsbesucher auf Reisen geschickt. Über 20 Orte reihen sich eng aneinandergebaut zu einem diffizilen Parcours in der Bonner Bundeskunsthalle. Sie bestehen aus kopierten Räumen, deren Originale sich über die Welt verteilen. Die eigentlichen Ausstellungssäle der Kunsthalle sind nicht mehr wahrnehmbar, ja bedeutungslos geworden. Institutionskritisch stellt sie der Künstler infrage. „Wand vor Wand“, der Titel der Präsentation, umschreibt die künstlerische Praxis von Gregor Schneider und damit den Kern seines Schaffens. Seit fast 30 Jahren bilden doppelt gebaute Räume seinen Arbeitsschwerpunkt, die er als dreidimensionale, begehbare Plastiken begreift. Dabei begibt er sich in die Metaphysik. Welche Kräfte wirken neben den verbrieften fünf Sinnen auf unser kognitives Empfinden und mithin an der objektiv begriffenen Realität? Schneiders „Immersionskunst“ hinterfragt unser unbewusstes Erleben. Berühmt geworden ist der 1969 in Rheydt geborene durch sein Haus „u r“ in der Unterheydener Straße in Mönchengladbach-Rheydt, wofür „u r“ steht. Seit diesen Sommer lehrt der Künstler in der Nachfolge von Tony Cragg an der Düsseldorfer Kunstakademie, an der er selbst von 1989 bis 1992 studiert hat.
Heiter und festlich empfangen wird der Besucher im ersten Saal. Locker positionierte Fragmente und Figuren aus Stroh, Bambus und Matsch sind Überbleibsel eines 2011 im westbengalischen Kolkata realisierten Tempelbaus samt Göttinnen. Dazu baute er einen Straßenabschnitt vor seinem Mönchengladbacher Elternhaus „u r“ nach, stellte ihn senkrecht auf und ließ die Menschen durch den „Asphalt“ ins Innere strömen. Dazu gab es noch den ebenfalls um 90 Grad gekippten Keller. Im Rahmen der Rituale des Durga-Purja-Fests strömten Millionen Pilger durch diese Installation und vollzogen religiöse Handlungen. Noch nie außerhalb Indiens zu sehen, ist die Installation „Kolkata Goddesses“ im Rahmen einer religiös-kulturellen Kreuzung nun von einer Fremde in die andere gelangt und setzt das Unbekannte in Szene. Vor dem eigentlichen Eintritt in die Installationsabfolge zeigt noch ein Video eine Fahrt durch eines der niederrheinischen Dörfer in Schneiders Heimat, die dem Braunkohletagebau weichen müssen. Heute noch Realität, sind in Kürze die Straßen und Häuser verschwunden, eine sich selbst verzehrende Produktion, die in der Erinnerung verhaftet bleibt, auch wenn sie längst nicht mehr sinnlich wahrgenommen werden kann.
Dem schließt sich der lang gestreckte „Passageway No. 1“ an, ein fast endloser, mit Spanplatten verkleideter weißer Gang samt Linoleumboden und Schallschutzdämmung an der Decke. Die weinroten Zellentüren des klinisch anmutenden, gleißend bleich ausgeleuchteten Flures lassen sich nicht öffnen. An dem völlig isolierten Ort sind menschliche Spuren nicht auszumachen. Er ist ein Verweis auf die „Weiße Folter“ in Guantánamo. Auch in den beiden nachfolgenden, aus Metallplatten und Edelstahlböden zusammengesetzten Boxen, die spärlich beleuchtet, mit Schaum isoliert und stark herabgekühlt sind, überkommen dem Besucher Gefühle eines Kühlhauses oder einer Folterkammer.
Vorbei am nur außen einsehbaren Zimmer des von Ludwig Mies van der Rohe geplanten Hauses Lange in Krefeld führt der Weg in ein Kinderzimmer, das Schneider in dem sterbenden Dorf Garzweiler fand. Ausgekleidet mit abwaschbarem PVC tun sich erstaunliche Korrespondenzen zu keimfreien Gefängniszellen auf. Dann trifft man auf die bereits mehrfach inszenierte „Hannelore Reuen. Alte Hausschlampe“, eine degradierte, als Doppelgänger konstruierte Frau. In realen Abformungen wird ähnlich wie in einem Sterberaum die Frage nach An- und Abwesenheit eines menschlichen Körpers gestellt. Badezimmer, Schlafzimmer, Doppelgarage, miefige Kellerräume und Korridore aus dem Haus „u r“ und weiteren Bauten rufen dann Geschichten aus dem Leben der einst hier beheimateten Bewohner in Erinnerung.
Besonders vollgestopft und eng ist es in der Wunderkammer des Hauses „u r“. Über und über mit Erinnerungsstücken, Kisten, Büchern und allerlei Nippes bestückt, finden sich Fotos der Eltern und Großeltern. Ähnlich einem Archiv abgelegter Gegenstände wird die Raumschale von Generation zu Generation weiter mit Andenken aufgerüstet. Ein längerer Gang führt zu einem 2014 unter dem Titel „German Angst“ erstmals realisierten, langsam verrottenden „Matschraum“. Der für Gregor Schneider ideale Museumsraum, ein Ort unmittelbarer Sublimation, lädt zum groben Ausleben atavistischer Impulse, zu einem Rückzug in chaotische Momente vor jeder Gestaltung ein.
Ein abschließender Höhepunkt in der Überblicksschau stellt das Werk „Odenkirchner Straße 202“ dar. Der Videofilm aus dem Jahr 2014 zeigt den Künstler am Küchentisch der Wohnung von Joseph Goebbels in Rheydt: Wie ferngesteuert löffelt Gregor Schneider hier eine Suppe; im Geburtszimmer des einstigen Nazi-Propagandaministers liegt er unbeweglich im Bett. Nachdem Schneider das Haus erwerben konnte, pulverisierte er es mit Ausnahme der Außenwände. Nach kurzer Ausstellung in einem offenen Lastwagen vor der Berliner Volksbühne wurde der Schutt auf einer Deponie abgeladen. Vom Raum mit der Zerstörung des Geburtshauses von Goebbels erreicht der Besucher wieder den Raum mit den Göttinnen von Kolkata, die für die Möglichkeit der Wiedergeburt stehen.
Es sind das kollektive Gedächtnis und die individuellen Erfahrungen, die sich in Schneiders Œuvre kreuzen. Gregor Schneider begreift sein Werk als konkretes dreidimensionales Denken. Das vollständige Erfahren von Räumen geht dabei über die sinnlich zu erfassenden Konstanten weit hinaus. Erstmals stellt die Bundeskunsthalle Schneiders Werk in einem großen Zusammenhang vor, das abseits aller Auseinandersetzungen um sein Kunstschaffen verbindende Aspekte aufzeigt. Über weite Strecken herrscht Isolation, düstere Beklemmung, Klaustrophobie vor. Besonders die dunklen Zonen hinter und zwischen den eingebauten Räumen besitzen etwas Metaphorisches. Es scheint die Dunkelheit zu sein, die derzeit die Gegenwart durchzieht und nicht aufgehellt werden kann.
Die Ausstellung „Gregor Schneider. Wand vor Wand“ ist bis zum 19. Februar 2017 zu besichtigen. Die Kunst- und Ausstellungshalle der BRD hat täglich außer montags von 10 bis 19 Uhr, dienstags und mittwochs bis 21 Uhr geöffnet. An Heiligabend bleibt das Haus geschlossen, an Silvester ist von 10 bis 16 Uhr geöffnet. Der Eintritt beträgt 10 Euro, ermäßigt 6,50 Euro. Zur Ausstellung ist ein umfangreicher Katalog erschienen, der im Museum 64 Euro kostet. |