Irritierende Frauenporträts jenseits von klassischer Anmut und Schönheit: Die Hamburger Kunsthalle zeigt den kompletten Bestand der Bronzegüsse von Edgar Degas – dazu Gemälde und Arbeiten auf Papier
Der Maler, der die Frauen hasste
Edgar Degas, Kleine Tänzerin von 14 Jahren, um 1878-1881
Der Kunstmarkt ist in den letzten Monaten ebenso ins Trudeln geraten wie die Gesamtwirtschaft. Aber geht es um einen Klassiker wie Edgar Degas, so scheint die Welt noch vollkommen in Ordnung zu sein. 13,3 Millionen Pfund oder 14,7 Millionen Euro erzielte seine görenhafte „Kleine Tänzerin von vierzehn Jahren“, eine gerade einmal 96 Zentimeter hohe Bronzeskulptur mit echtem Tüllröckchen und Haarband, Anfang Februar 2009 auf der Impressionisten-Auktion bei Sotheby’s in London. Ein neuer Rekord für eine der irritierenden Skulpturen des einzelgängerischen französischen Universalkünstlers. Umso erstaunlicher noch, dass es sich bei dieser Arbeit weder um ein Unikat noch um einen zu Lebzeiten entstandenen Guss handelt.
Edgar Degas hatte die Skulptur zwischen 1878 und 1881 zunächst nur in Wachs geschaffen und auf der Sechsten Ausstellung der Impressionisten präsentiert. Für seine Zeitgenossen eine ungeheure Provokation. Kritiker bezeichneten das verzerrt dargestellte Mädchen als „Blume der frühreifen Verderbnis“. In einer Auflage von 22 Exemplaren wurde sie erst 1922 fünf Jahre nach dem Tod Degas’ in Bronze ausgeführt. Ein weiteres Exemplar steht zur Zeit im Hubertus-Wald-Forum der Hamburger Kunsthalle. Die kleine Tänzerin gehört zu den Höhepunkten der Schau „Edgar Degas. Intimität und Pose“. Die Ausstellung zeigt den kompletten Bestand seiner Bronzegüsse: Insgesamt 73 Skulpturen aus der Sammlung des Museu de Arte de São Paulo in Brasilien. Ergänzt wird die Schau durch zahlreiche Gemälde, Zeichnungen und Pastelle des Künstlers.
Allen Arbeiten gemeinsam ist der schonungslose, fast klinisch sezierende Blick Degas’ auf den ungeschönten weiblichen Körper. Anmut und Grazie, Ebenmaß und Formvollendung haben bei ihm ausgedient. Anders als Jean-Auguste-Dominique Ingres, sein großes Vorbild der frühen Jahre, entfernte sich Degas im Laufe seiner Karriere immer mehr vom traditionellen Schönheitsideal. Der weibliche Körper diente ihm als Studienobjekt – sonst nichts. Degas interessierte sich weder für die Persönlichkeit seiner Modelle noch für deren Schicksal, ihre soziale Herkunft oder ihre Gefühle. So kommen seine Tänzerinnen meist als plumpe, mehr oder weniger gesichtlose und daher stereotype Wesen daher. Es gelingt ihnen oft nur mit Mühe, die klassischen Ballettposen elegant umzusetzen. Sie geraten aus der Balance, drohen umzukippen oder verströmen, auf dem linken Bein stehend und das rechte horizontal in die Luft gestreckt, die fragwürdige Eleganz eines Fußballspielers nach dem Abschuss. Ähnlich wie ein Fotograf, der aus einem Versteck heraus agiert, zeigt Edgar Degas die Frauen in unbeobachteten Momenten: beim Training im Übungssaal, bei der Toilette, in der Garderobe. Hier herrscht kein Einverständnis zwischen Künstler und Modell. Ebenso wie damals Degas wird auch der Betrachter zum Voyeur. „Es ist, als ob man durch ein Schlüsselloch schaut“, hat Degas selbst einmal gesagt.
Man sieht der schroffen Oberfläche der Skulpturen an, dass Edgar Degas sie zunächst aus kleinen Wachsstückchen geformt hat. Sämtliche der hier gezeigten Bronzeabgüsse wurden erst postum ausgeführt. Im Laufe seines Lebens verlor Degas nach und nach sein Augenlicht. Er konzentrierte sich daher am Ende seiner Karriere auf plastische Studien. Neben den Tänzerinnen zeigt die Hamburger Ausstellung in einer eigenen Abteilung auch Degas’ Rennpferde und Jockeys. Für die Darstellung dieser ebenfalls eher geschunden als elegant daherkommenden Kreaturen griff das Multitalent Degas auf eine Vielzahl von künstlerischen Techniken zurück.
Im Zentrum seiner ebenso nonkonformistischen wie prosaischen Kunst aber steht die aus der Distanz eines offenbar vollkommen Unbeteiligten beobachtete Frau. Als Tänzerin und Wäscherin, als Prostituierte oder als Büglerin. Befragt nach seinem Verhältnis zum anderen Geschlecht antwortete Degas, der offenbar niemals eine nähere Beziehung zu einer Frau eingegangen war: „Oh! Die Frauen können mir niemals vergeben, sie hassen mich, sie können fühlen, dass ich sie ihrer Waffen beraube, ich zeige sie ohne ihre Koketterie, wie Tiere, die sich reinigen! … Sie sehen in mir den Feind. Zum Glück, denn wenn sie mich mögen würden, wäre das mein Ende!“
Die Ausstellung „Edgar Degas. Intimität und Pose“ ist bis zum 3. Mai im Hubertus-Wald-Forum der Hamburger Kunsthalle zu besichtigen. Das Museum hat dienstags bis sonntags von 10 bis 18 Uhr, am Donnerstag zusätzlich bis 21 Uhr geöffnet. Der Katalog ist im Hirmer Verlag erschienen und kostet 35 Euro.